In der kantischen Philosophie ist das Ding an sich der Zustand der Objekte, wie sie sind, unabhängig von Darstellung und Beobachtung. Das Konzept des Dinges an sich wurde von dem deutschen Philosophen Immanuel Kant eingeführt und wurde in den folgenden Jahrhunderten von späteren Philosophen kontrovers diskutiert. Es ist eng mit Kants Konzept der Noumina oder der Gegenstände der Untersuchung im Gegensatz zu den Phänomenen, ihren Erscheinungsformen, verbunden.
In seiner Lehre vom transzendentalen Idealismus vertrat Kant die Auffassung, dass die Summe aller Gegenstände, die empirische Welt, ein Komplex von Erscheinungen ist, deren Existenz und Zusammenhang nur in unseren Vorstellungen vorkommt. Kant führt das Ding an sich wie folgt ein:
"Und in der Tat, wenn wir die Sinnesobjekte mit Recht als bloße Erscheinungen betrachten, so gestehen wir damit, dass sie auf einem Ding an sich beruhen, obwohl wir dieses Ding, wie es an sich ist, nicht kennen, sondern nur seine Erscheinungen, nämlich die Art und Weise, wie unsere Sinne von diesem unbekannten Etwas beeinflusst werden."
Für Kant sind „alle Gegenstände einer uns möglichen Erfahrung nichts als Erscheinungen, d. i. bloße Vorstellungen“. Dinge, die ein erkennendes Subjekt gemeinhin für seiner Erkenntnis zugängliche, aber ontologisch von ihm unabhängige außergeistige Entitäten hält – also beispielsweise Häuser – sind in Wirklichkeit Dinge, die bloß in seinem Geiste existieren. Meint Kant dies wirklich? Der Kant-Interpret James von Cleve ist dieser Ansicht, und auch P.F. Strawson und P. Guyer tendieren in diese Richtung.
In seinem Artikel Rosefeldt, Tobias: Dinge an sich und sekundäre Qualitäten, in: Stolzenberg, Jürgen (Hrsg.), Kant in der Gegenwart (316 S., Ln., 2007, de Gruyter, Berlin) tendiert der in Konstanz und nun bald in Berlin lehrende Kant-Spezialist Rosefeldt zu einer anderen Interpretationslinie.
Diese unterstellt Kant, dass Subjekte empirische Kenntnis von intersubjektiv zugänglichen Gegenständen haben, deren Existenz nicht von der Existenz der sie erkennenden Subjekte abhängt. Zudem charakterisiert sie Kants Aussagen über das Verhältnis zwischen geistabhängigen Erscheinungen und Dingen, die an sich selbst existieren, nicht als solche über zwei verschiedene Arten von Entitäten, sondern als Aussagen über zwei verschiedene Aspekte ein und derselben Art von Entitäten. Eine solche zwei Aspekte-Interpretation wurde von J. Schultz 1792 entwickelt und von P. Abela, L. Allais, H. Allison, A. Collins, G. Prauss, R. Walker oder M. Willaschek vertreten.
Danach können wir ein und dieselben ontologisch von uns unabhängigen Gegenstände sowohl so thematisieren „wie sie uns erscheinen“, d. h. insofern sie Gegenstände unserer empirischen Erfahrung sind, als auch insofern sie dies nicht tun, d.h. so „wie sie an sich selbst sind“. Diese Interpretation kann sich Rosefeldt zufolge auf eine Vielzahl von Stellen stützen. Seine Lieblingsstelle stammt aus dem Opus postumum: „Der Unterschied der Begriffe von einem Ding an sich und dem in der Erscheinung ist nicht objectiv, sondern bloß subjectiv. Das Ding an sich (ens per se), ist nicht ein Anderes Obiect sondern eine andere Beziehung (respectus) der Vorstellung auf dasselbe Object“ (AA XXII, 26).
Allerdings stellt sich die Frage, welche Aspekte ein und derselben Art von Gegenständen hier gemeint sind. Auch hier gibt es zwei verschiedene Interpretationsansätze:
- Die methodologische Interpretation meint mit Aspekt einen Unterschied in der Weise, die Objekte zu betrachten.Wenn es, wie Kant annimmt, eine Bedingung gibt, die Gegenstände erfüllen müssen, um überhaupt Gegenstände empirischer Erkenntnis zu sein, dann kann man diese Gegenstände betrachten, insofern sie diese Bedingung erfüllen (als Erscheinungen), und man kann sie unabhängig davon, dass sie diese Bedingung erfüllen, betrachten (so wie sie an sich selbst sind). Bei der genannten Bedingung handelt es sich um die Existenz in Raum und Zeit, und deswegen kann Kant sagen, dass Gegenstände, insofern sie den Bedingungen unserer Erkenntnis genügen, in Raum und Zeit existieren, dieselben Gegenstände, insofern sie unabhängig von den Bedingungen unserer Erkenntnis (d.h. an sich selbst) betrachtet, nicht in Raum und Zeit existieren.
- Die ontologische Interpretation schreibt Kant die Annahme zu, dass es zwei verschiedene Arten von Eigenschaften von Gegenständen gibt und dass wir nur Eigenschaften einer dieser beiden Arten (die Eigenschaften der Dinge, wie sie uns erscheinen) erkennen können. Der Hauptstrang dieser Interpretationslinie – zu der etwa D.P. Dryer, H.J. Paton, H. Putnam, vor allem aber Arthur Collings, Lucy Allais und nun auch Tobias Rosefeldt gehören – nimmt an, dass es sich bei den erkennbaren Eigenschaften der Dinge um Eigenschaften handelt, die außergeistige Gegenstände nur in Relation zu Erkenntnissubjekten mit unseren epistemischen Vermögen haben. Bei den unerkennbaren Eigenschaften dagegen handelt es sich um solche, die ein Gegenstand auch unabhängig von seiner Relation zu solchen Subjekten hat. Die Hauptaufgabe, die eine solche Interpretation zu leisten hat, besteht darin zu erklären, was es heißen soll, dass Eigenschaften in allgemeinen und alle raum-zeitlichen Eigenschaften im besonderen einem Gegenstand nur im Verhältnis zu einem Erkenntnissubjekt mit bestimmten Erkenntnisvermögen zukommen.
Rosefeldt versteht Kants Behauptung, dass raum-zeitliche Eigenschaften den Dingen nicht an sich selbst zukommen, sondern nur, insofern diese uns erscheinen, so, dass raum-zeitliche Prädikate der Form „ist F“ nicht objektiv sind, dies aber dadurch werden können, dass man sie zu Prädikaten der Form „erscheint Subjekten mit dem Vermögen raum-zeitlicher Anschauung F“ umformt, also zu Prädikaten, die explizit auf Erkenntnissubjekte mit unseren Anschauungsformen relativiert sind. Diese Prädikate drücken subjektrelativierte Eigenschaften aus, die extramentalen Gegenständen zukommen und deren Vorkommen intersubjektiv feststellbar ist. Die Dispositionen, die in uns Vorstellungen einer bestimmten Art verursachen, werden als Eigenschaften außergeistiger Gegenstände behandelt. Damit ist vereinbar, dass wir uns selbst als denkende Wesen gar nicht erkennen könnten, wenn wir nicht wüssten, dass außergeistige Gegenstände solche Eigenschaften haben (was Kant in der „Widerlegung des Idealismus“ B 274 ff. verlangt).
Wer nun behauptet, dass alle Eigenschaften subjektrelativiert sind, der muss eine Theorie darüber liefern, wie unter dieser Annahme die Bezugnahme auf Gegenstände noch möglich ist. Denn wenn wir nur subjektrelativierte Eigenschaften von Gegenständen erkennen können, wie können wir uns dann eigentlich überhaupt noch auf Gegenstände beziehen, denen wir diese Eigenschaften zuschreiben, und inwiefern handelt es sich bei diesen Gegenständen um die gewöhnlichen Gegenstände unserer empirischen Erkenntnis wie Städte, Häuser, Blumen oder Materieteilchen? Rosefeldt zufolge hat Kant nicht nur eine Antwort auf diese Frage geliefert, vielmehr stellt diese ein Kernstück seiner Philosophie dar:
Wir haben eine Anschauung von der Ausdehnung und denken uns durch den Verstand einen Gegenstand, der die Eigenschaft hat, diese Anschauung in uns zu verursachen. Von diesem Gegenstand wissen wir darüber hinaus, dass er diese Disposition hat, hinaus all das, was uns die philosophische Ontologie über das Wesen der Dinge sagt, so zum Beispiel, dass er eine Substanz ist, die mit anderen Substanzen in der Beziehung der Wechselwirkung steht. Dass wir die Disposition zum Beispiel einer Rose zuschreiben, bedeutet ferner, dass der Gegenstand, den wir uns durch den Verstand denken, zudem die Disposition hat, in uns eine Anschauung von ihm als Rose zu verursachen. Und dass jemand, der eine Rose betrachtet, beide Dispositionen nicht irgendeiner, sondern einer ganz bestimmten Rose zuschreibt, liegt daran, dass er sich durch seinen Verstand einen Gegenstand denkt, der die Disposition hat, in ihm eine ganz bestimmte Anschauung zu verursachen.
Der Bezug auf einen Gegenstand besteht also nicht darin, dass wir diesen anschauen und seine nicht-subjektrelativierten Eigenschaften wahrnehmen. Der Gegenstand, dem wir die von uns sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften zuschreiben, wird allein durch den Verstand repräsentiert und sozusagen zu den wahrgenommenen Eigenschaften hinzugedacht. Wir haben von ihm einen Begriff, den wir nicht aus der Erfahrung gewonnen haben, sondern der dem Verstand selbst entspringt. Rosefeldt zufolge lässt es mit einem so verstandenen Begriff eines Dinges an sich gut in Kants Philosophie aushalten.
Autor: Tobias Rosefeldt ist Professor für Klassische deutsche Philosophie an der Humboldt-Universität Berlin.
Quelle: Diese Rezension erschien unter www.information-philosophie.de (Editiert)