Hegels "Logik" lesen

Jede Beschäftigung mit dem ‚reifen‘ System Hegels, d.h. mit seiner gesamten Philosophie ab ungefähr 1812, führt unweigerlich auf seine "Logik". Nicht nur die Forschungsliteratur, sondern auch Hegel selbst weist immer wieder darauf hin, dass die systematische und letztliche Begründung für seine jeweilige Argumentation, sei es in seiner Rechtsphilosophie, sei es in seiner Natur- oder Geistphilosophie, dort zu finden ist.

Hegel hat seine "Wissenschaft der Logik" in zwei Versionen vorgelegt. Die erste, auch große oder Nürnberger Logik genannt, erscheint in zwei auf drei Bücher aufgeteilten Teilen. Der erste Band enthält die "objektive Logik" und umfasst "Das Sein" (1812) und "Die Lehre vom Wesen" (1813), der zweite Band enthält "Die subjektive Logik oder die Lehre vom Begriff" (1816). Kurz vor seinem Tod hat Hegel begonnen, diese Nürnberger Logik für eine zweite Auflage zu überarbeiten; die Vorrede zu dieser Neuausgabe, von der er nur noch "Die Lehre vom Sein" (1832) fertigstellen konnte, wird von ihm eine Woche vor seinem Tod unterzeichnet.

Neben dieser großen Logik liegt von Hegel auch noch die Version vor, die er als ersten Teil seiner "Enzyklopädie der Philosophischen Wissenschaften", letztmalig in dritter Auflage von ihm im Jahre 1830 überarbeitet, herausgegeben hat. Wie die gesamte Enzyklopädie enthält auch diese kleine Logik Hegels Konzeption nur "im Grundrisse" – wie der Titel dieses Werkes unmissverständlich klarmacht. Dies, und die Tatsache, dass Hegel sich nach der dritten Auflage der kleinen Logik an eine Neuauflage seiner großen Logik macht, belegt, dass es letztere ist, der man sich zuwenden muss, wenn man sich mit dem Fundament des Hegelschen Systems auseinandersetzen will. Zu kursorisch und argumentativ zu skizzenhaft bleiben die Ausführungen der kleinen Logik, als dass man mit genügender Textsicherheit ermitteln könnte, was in Hegels "Wissenschaft der Logik" vor sich geht. Die weiteren Ausführungen beziehen sich daher auf die Nürnberger Logik und der erste wichtige Hinweis für eine Lektüre der Hegelschen "Logik" lautet: die große Logik lesen!

Wenn man Hegels Werk, trotz zahlreicher Anfechtungen, die schon zu seinen Lebzeiten erhoben wurden, und trotz gegenwärtiger Versuche, es als zwar große, aber unwahre Philosophie stillzustellen, weiterhin zu den systematisch bedeutenden Philosophien zählt, dann erfordert die Auseinandersetzung mit ihr notwendigerweise die Beschäftigung mit seiner "Logik".

Wie nur für wenige andere philosophische ‚Klassiker‘ gilt für Hegel, dass es kaum gesicherten Forschungskonsens gibt hinsichtlich der Bedeutung seiner systematischen Hauptthesen. Ein Hauptgrund dafür ist darin zu sehen, dass ein solcher Grundkonsens über seine "Logik" bisher nicht hergestellt werden konnte (vgl. Fulda et al. und die Darstellung in Wetzel). Die Situation der Hegelinterpretation mit Bezug auf dieses Werk ließe sich vielmehr immer noch als recht gute Illustration desjenigen Zustands der Menschen heranziehen, die kurz nach der Babylonischen Sprachverwirrung geherrscht haben muss. Der Grund hierfür wiederum liegt in Hegels Nürnberger Logik selbst. Es gibt wenige Texte der Philosophie, die sich dem Verständnis des Lesers so sehr sperren wie dieser. Nicht nur die eigenwillige Begrifflichkeit oder der Stil der Hegelschen Sprache, vor allem auch die extremen inhaltlichen Ansprüche sind es, die jede Annäherung ungeheuer schwierig werden lassen. Obwohl jede Passage problembezogen ist, werden die seinen Ausführungen zugrundeliegenden Fragestellungen von Hegel nur selten explizit benannt. Bezüge auf die philosophische Tradition werden stets aus der Perspektive Hegels hergestellt und sind daher eher interpretationsbedürftig als interpretationserhellend. Und da Hegels Methodenverständnis es ihm verbietet, in abstrakter Weise über sein Vorgehen zu sprechen, überlässt er den Leser dem ‚Gang der Sache selbst‘, so dass dieser dann versuchen muss, die historischen wie systematischen Problemkontexte selbst herzustellen.

All dies hat in der Forschungsliteratur Spuren hinterlassen. Mit wenigen Ausnahmen (z.B. Düsing, Hartmann, Wetzel) versuchen diejenigen, die sich überhaupt auf eine durchgehende Interpretation der gesamten großen Logik einlassen, durch Versuche der Formalisierung (z.B. Wandschneider) oder Herantragen einer externen Fragestellung oder eines kritischen Standpunktes (z.B. Theunissen) einen interpretatorischen Zugang zu gewinnen. Zumeist aber beschränken sich die Beiträge, man möchte sagen: notgedrungen, darauf, ausgewählte Passagen aus der "Logik" zu kommentieren. Dabei haben sich drei Hauptstrategien als hilfreich erwiesen: (i) die werkimmanente Rekonstruktion solcher Abschnitte, von denen man sich Einblicke in die gesamte Methode erhofft (z.B. Henrich, Schmidt), (ii) die hegelimmanente Rekonstruktion derartiger Abschnitte z.B. durch Bezug auf Hegels Interpretation der Philosophiegeschichte (z.B. Rohs) und (iii) die am historischen oder systematischen Problembestand ausgerichtetete Interpretation solcher zentralen Abschnitte (z.B. Stekeler-Weithofer, Wolff). Natürlich finden sich Spuren aller drei Strategien bei all diesen Interpretationen. Und auch wenn die Vieldeutbarkeit des Hegelschen Textes in der großen Logik weniger ausgeprägt ist als in der kleinen, so bleibt doch auch mit Bezug auf die Interpretationen zur großen Logik festzuhalten, dass es ein gehöriges Maß an Unterschieden im Zugang gibt. Diese Interpretationsdifferenzen sind anhand des Hegelschen Textes selbst nur schwer auszuräumen, weil die Beschränkung auf einzelne, wenn auch zentrale Passagen dazu führt, dass unterschiedliche Interpretationen sich auf Hegels Ausführungen mit gleicher Plausibilität stützen können.

Für den Leser, der sich der Hegelschen "Logik" zu nähern versucht, bedeutet dies in erster Linie, dass ihm die Forschungsliteratur keinen Königsweg zum Verständnis der Hegelschen "Logik" bereiten kann. Der zweite wichtige Hinweis für das Studium von Hegels "Logik" lautet daher: nicht über Hegels "Logik", sondern Hegels "Logik" lesen!

Da aber ein rein immanentes Studium der "Wissenschaft der Logik" dem Leser mehr an Zeit, Geduld und Kenntnissen abverlangt, als im Normafall vertretbar bzw. voraussetzbar, bleibt nur, sich in einem Dreischritt ein gewisses Vorverständnis (a.), eine immanente Interpretationsstrategie (b.) und einen externen Interpretationsstandpunkt (c.) anzueignen.

(a.) Außer der begleitenden Lektüre der genannten Gesamtdarstellungen sind für die Entwicklung eines solchen Vorverständnisses die beiden Vorreden und die Einleitung von Nutzen, die Hegel seiner großen Logik vorangestellt hat. Über diese Passagen hinaus findet sich vor allem in der dritten Auflage von Hegels "Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse" neben den drei Vorreden zu den verschiedenen Auflagen und einer Einleitung (§ 1-18) ein Textpassage, der insgesamt für das Verständnis der Hegelschen Philosophie von zentraler Bedeutung ist: der Vorbegriff (§§ 19-78). In diesem "Vorbegriff" versucht Hegel, sein eigenes Konzept sowohl in philosophiegeschichtlicher wie auch in systematischer Hinsicht zu charakterisieren, indem er auf die spezifischen Differenzen zu den historischen und systematischen Alternativen aufmerksam macht. In diesem Zusammenhang ist auch das Studium der zeitgenössischen Diskussion um Hegels "Logik" von Nutzen, die mittlerweile mustergültig aufbereitet ist (vgl. Burkhardt). Es sind, und dies kann als der dritte Hinweis zur Lektüre von Hegels "Logik" gegeben werden, gerade diese Ausführungen des Vorbegriffs, die dem Leser eine erste systematische Orientierung liefern können. Weil bisher die kritische Ausgabe der dritten Auflage von Hegels "Enzyklopädie" noch nicht als Studienausgabe erschienen ist, kann man dabei alle gängigen Ausgaben zugrundelegen.

(b.) Immanente Interpretationsstrategien lassen sich zwei unterscheiden. Werkimmanent kommt es darauf an, entweder im kontinuierlichen Fortgang des Hegelschen Textes durch das genaue Studium des Hegelschen Textes ein Verständnis sowohl von den einzelnen Passagen (für die Wesenslogik exemplarisch Henrich, Schmidt, für die Logik insgesamt Düsing, Theunissen) wie auch von dem Entwicklungs- und Argumentationsgang zu erwerben. Hilfreich ist dabei, zusätzlich in hegelimmanenter Weise Bezug auf andere Teile des Hegelschen Systems zu nehmen, so dass aufgrund der dort von Hegel verhandelten Sachprobleme und mittels seiner dortigen Verwendung der Kategorien ein inhaltlicher Bezugspunkt für die Interpretation seiner Logik gewonnen wird (für den Abschnitt "Form und Grund" exemplarisch bei Rohs).

(c.) Mit einem externen Interpretationsstandpunkt ist hier nicht gemeint, Hegels Wissenschaft der Logik oder Teile daraus als Modell für die Lösung philosophischer Probleme heranzuziehen. Ein solcher externer Zugriff findet sich zwar in der Literatur auch gelegentlich und hat als eigenständiger systematischer Beitrag auch seine Berechtigung, kann aber zu einem Verständnis von Hegels Werk selbst nicht beitragen. Mit einem externen Interpretationsstandpunkt ist hier vielmehr gemeint, z.B. eine Passage aus der Logik zu interpretieren, indem man sie als Hegels Versuch deutet, bestimmte systematische Probleme der Philosophie zu lösen (z.B. Horstmann) oder auch Erkenntnisse anderer Wissenschaften wie die Mathematik oder Chemie einer philosophischen Deutung zu unterziehen (exemplarisch dafür mit Bezug auf die Mathematik vgl. Stekeler-Weithofer oder Wolff).

Wer Hegels Logik lesen und verstehen möchte, muss Zeit und Geduld mit- und aufbringen. Nur im Verbund aller drei Strategien kann es gelingen, in die komplizierte Gedankenwelt der Hegelschen "Wissenschaft der Logik" einzudringen. Als Textgrundlage sollte dabei die mittlerweile in vier Bänden als Studienausgabe bei Meiner erschienene kritische Ausgabe dienen, da diese nicht nur eine hilfreiche Einleitung sowie erläuternde Anmerkungen enthält, sondern darüber hinaus zwei Vorteile bietet: Zum einen ist die ursprüngliche Textgestalt mit der Hegel eigentümlichen Verwendung von Hervorhebungen und Einteilungen wieder hergestellt worden, so dass leichter zu entscheiden ist, welche Passagen von Hegel als Erläuterungen bzw. Anmerkungen gedacht sind und welche als der eigentliche Haupttext gelten müssen. Und zum anderen liegen in dieser Ausgabe sowohl die erste wie auch die zweite Auflage der Seinslogik separat vor, so dass der missliche Umstand der alten, zweibändigen Ausgabe, die von Lasson ebenfalls in der Philosophischen Bibliothek des Meiner-Verlags herausgegeben wurde, nun behoben ist. In dieser alten Ausgabe war nämlich die zweite Auflage der Seinslogik mit der Wesens- und Begriffslogik verbunden, was inhaltlich zu dem Problem führte, dass der Übergang bzw. die gedankliche Entwicklung vom ersten zum zweiten Buch der Wissenschaft der Logik nicht zu rekonstruieren war. Natürlich reicht auch die neue Studienausgabe nicht hin, alle Interpretationsprobleme zu lösen. Aber sie verhindert zumindest, dass vermeidbare Auslegungsschwierigkeiten hinzukommen.

Ausgaben der Schriften Hegels

Die große Logik

Wissenschaft der Logik. Das Sein (1812). Neu herausgegeben von Hans-Jürgen Gawoll, kt., DM 38.--, 2., verb. Auflage 1999, Philosophische Bibliothek 375, Felix Meiner, Hamburg.

Wissenschaft der Logik. Die Lehre vom Wesen (1813). Neu herausgegeben von Hans-Jürgen Gawoll. XLIV, 224 S., kt., DM 24.--,

1999, Philosophische Bibliothek 376, Felix Meiner, Hamburg.

Wissenschaft der Logik. Die Lehre vom Begriff (1816). Neu herausgegeben von Hans-Jürgen Gawoll . XLII, 339 S., kt., DM 28.--, 1994, Philosophische Bibliothek 377, Felix Meiner, Hamburg.

Wissenschaft der Logik. Die Lehre vom Sein (1832). Neu herausgegeben von Hans-Jürgen Gawoll. XLI, 509 S., kt., DM 38.--, 1990, Philosophische Bibliothek 385, Felix Meiner Hamburg 1990.

Alternativ:

Wissenschaft der Logik 1, 457 S., kt., DM 26.80, Hegel, Werke, Band 5, stw 606.

Wissenschaft der Logik 2. 567 S., kt., DM 26.80, Hegel, Werke, Band 6, stw 607, beide Suhrkamp, Frankfurt.

Die kleine Logik

Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). Neu herausgegeben von Friedhelm Nicolin und Otto Pöggeler. CII, 515 S., kt., DM 36.--, 1991, Philosophische Bibliothek 33, Felix Meiner, Hamburg.

Alternativ:

Enyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Band 1, kt., DM 22.80, Hegel, Werke, herausgegeben von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, 1986, stw 608, Suhrkamp, Frankfurt.

Hilfreiche Sekundärliteratur zu Hegels Logik

Burkhardt, Bernd: Hegels "Wissenschaft der Logik" im Spannungsfeld der Kritik. Hildesheim. 562 S., kt., DM 148.--, 1993, Olms, Hildesheim.

Düsing, Klaus: Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik. 3., erweiterte Auflage 1995, 399 S., kt., DM 138.--, Bouvier, Bonn.

Fulda, Hans Friedrich et al.: Kritische Darstellung der Metaphysik. Eine Diskussion über Hegels "Logik". 120 S., kt., DM 3.95, stw 315, 1980 Suhrkamp, Frankfurt a.M.

Hartmann, Klaus: Hegels Logik. XIX, 469 S., Ln., DM 248.--, 1999, de Gruyter, Berlin.

Henrich, Dieter: "Hegels Logik der Reflexion". In: Henrich, Dieter (Hrsg.): Die Wissenschaft der Logik und die Logik der Reflexion, 1978, Bouvier, Bonn, S. 203-324.

Horstmann, Rolf-Peter: Ontologie und Relationen. Hegel, Bradley, Russell und die Kontroverse über interne und externe Beziehungen. 331 S., DM 68.--, 1984, Anton Hain.

Horstmann, Rolf-Peter (Hrsg.): Seminar: Dialektik in der Philosophie Hegels. 2. Auflage 1989, Suhrkamp, Frankfurt a.M. (im Buchhandel vergriffen).

Riedel, Manfred (Hrsg.): Hegel und die antike Dialektik. 280 S., kt., DM 18.--, 1990, stw 907, Suhrkamp, Frankfurt a.M.

Rohs, Peter: Form und Grund. 3. Auflage 1982, Bouvier, Bonn (im Buchhandel vergriffen).

Schmidt, Klaus J.: Georg W.F. Hegel "Wissenschaft der Logik – Die Lehre vom Wesen". Ein einführender Kommentar. 238 S., kt., DM 26.80, 1997, UTB, Schöningh, Paderborn.

Stekeler-Weithofer, Pirmin: "Hegels Philosophie der Mathematik". In: Demmerling, Christoph und Kambartel, Friedrich (Hrsg.): Vernunftkritik nach Hegel. 1992, Suhrkamp, Frankfurt a.M. S. 214-249.

Theunissen, Michael: Sein und Schein. Die kritische Funktion der Hegelschen Logik. 500 S., kt., DM 24.80, stw 314, 1980, Suhrkamp, Frankfurt a.M.

Wandschneider, Dieter: Grundzüge einer Theorie der Dialektik. Rekonstruktion und Revision dialektischer Kategorienentwicklung in Hegels "Wissenschaft der Logik". 231 S., Ln., DM 88.--, 1995, Klett-Cotta, Stuttgart.

Wetzel, Manfred: Prinzip Subjektivität: Allgemeine Theorie. Erster Halbband: Ding und Person, Dingbezugnahme und Kommunikation, Dialektik. 2001, Köingshausen und Neumann, Würzburg (im Erscheinen)

Wolff, Michael: Der Begriff des Widerspruchs. Eine Studie zur Dialektik Kants und Hegels. 160 S., Ln., DM 64.--, Anton Hain.

Autor

Michael Quante ist 2001 habilitierter Assistent am Philosophischen Seminar der Universität Münster.