Der deutsche Philosoph Martin Heidegger war in den 1930er und 1940er Jahren Mitglied der NSDAP. Von daher ist seine Beteiligung am Nationalsozialismus eine Quelle heftiger Kontroversen.
Einige sehen darin ein Zeichen für Probleme, die seiner Philosophie innewohnen: Diese, insbesondere die Betonung der Bedeutung der Verwurzelung, führte ihn dazu, eine rassistische und nationalistische Ideologie zu unterstützen, die schließlich zum Holocaust führte.
Andere argumentieren, dass Heideggers politische Ideen und Handlungen getrennt von seinen philosophischen Ideen verstanden werden müssen und dass es möglich ist, beides voneinander zu trennen: Aus dieser Perspektive ist Heideggers Philosophie eine gültige Kritik an der modernen Technik und ihren entmenschlichenden Auswirkungen, und seine Ideen über Authentizität, Verwurzelung und Land sind nicht inhärent rassistisch oder nationalistisch.
Es ist anzumerken, dass Heidegger sich weder öffentlich von seiner Mitgliedschaft in der NSDAP distanzierte noch eine Erklärung für seine Mitgliedschaft anbot.
Als "Schwarze Hefte" werden die schwarz eingebundenen Denktagebücher von Heidegger bezeichnet, die er von 1931 bis 1975 mit postumer Publikationsabsicht erstellte. Durch ihre Publikation 2014/2015 als Teil seines Gesamtwerks wurden u. a. bisher unbekannte antisemitische Äußerungen öffentlich.
Rektor in Freiburg
Die Diskussion um Heideggers mögliche Verstrickung in das geschichtspolitische Geschehen des Nationalsozialismus bezieht sich auf die Zeit seines Amtsantritts als Rektor der Universität Freiburg im Jahr April 1933. Zu diesem Zeitpunkt trat er der Nationalsozialistischen Partei bei (am 1. Mai 1933). Bei dieser Gelegenheit hielt Heidegger eine Rede mit dem Titel "Die Selbstbehauptung der deutschen Universität", in der er die Autonomie der universitären Institution gegenüber der so genannten „politisierten Wissenschaft“ verteidigte, jedoch ohne jeglichen Bezug auf die NSDAP.
Im selben Jahr erschien am 3. November ein Artikel mit dem Titel "Deutsche Studenten!" in der Freiburger Studentenzeitung, in der er sich folgendermaßen äußerte: „Lasst nicht Theoreme und Ideen die Regeln eures Lebens sein. Der Führer selbst und er allein ist die deutsche Wirklichkeit von heute und morgen und ihr Gesetz“; er schloss seine offizielle Rede mit dem Satz des nationalsozialistischen Grußes ‚Heil Hitler‘.
Im April 1934 legte er jedoch das Amt des Rektors nieder, obwohl er weiterhin lehrte; von da an beteiligte sich Heidegger nicht mehr direkt an den politischen Aktionen des Nationalsozialismus.
Vom Geist
Die Frage nach dem Geist bestimmt das gesamte Heideggersche Werk. Geist ist Heideggers Name für die Möglichkeit des Fragens. Jacques Derrida untersucht die Veränderungen und Abweichungen beim Gebrauch des Geistbegriffs in Heideggers Schriften.
„Ich werde vom Geist, von der Flamme und von der Asche sprechen“. Dies sind die ersten Worte von Jacques Derridas Vorlesung über Heidegger. Es geht um den Nationalsozialismus - um das, was vom Nationalsozialismus im Allgemeinen und von Heideggers Nationalsozialismus im Besonderen noch zu durchdenken ist. Es ist auch eine „Politik des Geistes“, die man damals - und auch heute noch - dem Unmenschlichen entgegensetzen wollte.
Jacques Derrida: Vom Geist - Heidegger und die Frage; Suhrkamp, Frankfurt 1998; übersetzt von Alexander García Düttmann
Völkische Revolution
„Hätte Heidegger auch ohne seine Nähe zum Nationalsozialismus zu einem der großen Denker des Nationalsozialismus werden können?“
Diese Frage hatte einst Derrida gestellt, und nun stellte sie in Stanford lehrende Germanist Hans Ulrich Gumbrecht anlässlich der Debatte um das Faye-Buch in der Frankfurter Allgemeinen (31.8.2005) neu.
Während der Zeit des Dritten Reiches hat sich der Schwerpunkt in Heideggers Denken verschoben hin von „Dasein“ und seiner „Eigentlichkeit“ hin zur „Entbergung des Seins“ als „Wahrheitsereignis“. Dabei, so Gumbrecht, setzt Heidegger auf die angeb-lich in der Geschichte des „Volkes“ freiwerdende Dynamik als Ursprung der Wahrheit und in diesem Zusammenhang folgt der berühmte Satz vom „Geschick“ des Menschen, das im „Geschehen der Gemeinschaft, des Volkes“ liege. Und in diesem Sinn hat Heidegger den Aufstieg Hitlers als völkische Revolution zu befördern gesucht.
Dass er damit in der Freiburger Universität auf wenig Anklang stieß, hat zu seinem Rücktritt als Rektor geführt. Im Sommersemester 1933 ist eine Abwendung von der NS-Politik zu konstatieren: „Was heute vollends als Philosophie des Nationalsozialismus herumgeboten wird“, doziert Heidegger, „hat mit der inneren Wahrheit und Größe dieser Bewegung (nämlich mit der Begegnung der planetarisch bestimmten Technik und des neuzeitlichen Menschen) nicht das geringste zu tun“, heißt es in der 1953 erstmals veröffentlichten Vorlesung.
Gumbrecht meint nun, dass die Klammereinfügung 1953 nachträglich eingeschoben sei und dies aus philologischen Gründen: in allen anderen Texten aus dieser Zeit wird die Raserei der entfesselten Technik allein Russland und Amerika zum Vorwurf gemacht, und Heideggers Kritik am NS-Regime konzentrierte sich auf die mangelnde Bereitschaft zur nationalen Revolution. Dagegen finde sich in diesem Text erstmals die genannte Umorientierung von den existentiellen Fragen des menschlichen Daseins zu den ereignishaften Umständen der Entbergung des Seins. Die Wahrheit scheint nun nicht mehr aus dem Schicksal des Volkes auf, sondern wird in die Dimension des Seins verlagert.
Diese Wende, so Gumbrecht, geht mit der Entmachtung der SA und mit einer Selbstumpolung des Nationalsozialismus parallel: vom „aufsteigenden Totalitarismus der völkischen Revolution“ hin zu einem hierarchischen Totalitarismus der SS-Spitzen. Damit war jener Nationalsozialismus, auf den Heidegger gesetzt hatte, besiegt. In der nun einsetzenden Konzentration auf die Technik liegt aber für Gumbrecht der Grund für die andauernde Faszination der Heideggerschen Philosophie.
Quelle: Diese Rezension erschien unter www.information-philosophie.de (Editiert)
Komplizenschaft
Die Frage nach der Komplizenschaft führender deutscher Intellektueller mit der nationalsozialistischen Bewegung stellt sich nach wie vor als ein beunruhigendes Problem dar. Sie fordert aber auch ein wiederholtes Nachdenken über die Struktur des Nationalsozialismus, wie es Jacob Taubes 1987 formuliert hatte:
„Irgendetwas verstehe ich vom Nationalsozialismus nicht, wenn ich nicht verstehen kann, wieso Schmitt und Heidegger von ihm überhaupt angezogen wurden.“
Das gilt aber auch umgekehrt: Auch Heideggers oder Schmitts Denken bleibt unverstanden, wenn ihre Beteiligung am Nationalsozialismus nicht aus diesem heraus erklärt werden kann.
Daniel Morat ist in seinem Buch
Morat, Daniel: Von der Tat zur Gelassenheit. Konservatives Denken bei Martin Heidegger, Ernst Jünger und Friedrich Georg Jünger 19201960, 592 S., Ln., € 48.—, 2007, Wallstein, Göttingen
dieser Frage hinsichtlich Heidegger und den Gebrüdern Jünger nachgegangen, und eine seiner Thesen lautet: Der „Einsatz“ für den Nationalsozialismus bot einer bestimmten Gruppe von radikalkonservativen Intellektuellen, die über einen ausreichenden Vorrat an ideologischer Übereinstimmungen mit dem Nationalsozialismus verfügten, die heiß ersehnte Möglichkeit, Geist und Tat unmittelbar miteinander kurzzuschließen und das Vermittlungsproblem von Theorie und Praxis zugunsten der Praxis zu lösen.
Genau hier finden sich die Gemeinsamkeiten von Jünger und Heidegger. Und beide begannen ihre Unterstützung ab Mitte der 1930er Jahre einzustellen: Morat sieht hier eine Parallelentwicklung, die Jünger und Heidegger von anderen Vertretern der extremen Rechten unterscheidet. Auch beinhaltet sowohl bei Heidegger als auch bei den Brüdern Jünger die Auseinandersetzung mit der Technik als einem Systems des Produzierens und Arbeitens eine verdeckte Auseinandersetzung mit dem Problem des Handelns. Und bei beiden findet nach 1945 ein Wandel vom Voluntarismus der Tat zum Attentismus der „Gelassenheit“ statt, was Morat als Teilgeschichte der Transformation des deutschen intellektuellen Konservatismus im 20. Jahrhundert interpretiert. Morat sieht hier einen grundlegenden Unterschied zu anderen Konservativen wie Arnold Gehlen oder Hans Freyer. Freyer etwa hatte sich nach dem Krieg mit der demokratischen Ordnung abgefunden, gleichzeitig aber an seinem Anspruch tätiger Teilhabe am politischen Leben festgehalten. Bei Heidegger und den Brüdern Jünger verhielt es sich gerade umkehrt: Sie blieben auch nach 1945 strikte Antidemokraten, zogen sich aber mehr und mehr aus der Sphäre des Politischen zurück. Sie hielten zwar an ihrem Anspruch fest, durch ihr Denken wirken zu wollen, dies war aber nicht mehr auf konkrete politische Veränderungen gerichtet, sondern auf ein Jenseitiges der Politik: Eine „uneigentliche“ Jetztzeit sollte durch eine „eigentliche“ Zukunft ersetzt werden.
Der Umbruch dieses Denkens begann aber schon viel früher und zwar – das ist eine weitere These von Morat – beim Scheitern der eigenen politischen Ambitionen zu Beginn der 1930er Jahre. Es handelt sich dabei in den Worten von Habermas um den „Prozeß einer eigentümlich uneinsichtigen Enttäuschungsverarbeitung“, der die weitere Entwicklung steuerte und in dieser zu einer Reformulierung des GeistTatProblems führte, das nun einseitig zu Gunsten des Geistes gelöst werden sollte.
Die eigentümlich uneinsichtige Enttäuschungsverarbeitung
Die gesamte Konservative Revolution der Weimarer Republik war auf Aktion anstatt bloßer Meinungsbildung gerichtet. Sie wurde in erster Linie von jungen Rechtsintellektuellen getragen, die durch das Erlebnis des Ersten Weltkrieges nachhaltig geprägt worden waren. Dieser Aktionismus war letztlich auch durch die Unfähigkeit geprägt, ein positives politisches Programm zu entwerfen. Carl Schmitts „Entscheidung für die Entschiedenheit“ sei letztlich inhaltsleer und nur durch Gewalt einzulösen, erkannte schon 1935 Karl Löwith. Und in der Übertragung auf Heidegger sprach Löwith vom „inneren Nihilismus dieser nackten Entschlossenheit“. Das dezisionistische TatDenken verband sich mit spezifisch konservativen Motiven wie „Sehnsucht nach Schicksal und Tiefe“, einem „Denken aus dem Ursprung“, einem Elitismus der Eingeweihten und einem soldatischen Heroismus der Opferbereitschaft und des Todesmutes, sowie einem spezifisch männlichen Führerprinzip. Und die angestrebte Revolution sollte nicht irgendeine, sondern eine „deutsche Revolution“ sein. So schrieb 1923 Hans Freyer: „Wir sind fertig mit den Begriffen, nun greifen wir ein in die Welt…. Und ziehen aus den Prämissen der Philosophie den großen Schluß: die Tat.“
Entsprechend sah Ernst Jünger in der nationalsozialistischen Bewegung „mehr Feuer und Blut, als die so genannte Revolution in den ganzen Jahren aufzubringen imstande war“. Die konservativen Intellektuellen betrachteten die NSDAP als gleichgesinnte Kraft. Der Unterschied lag nicht in der inhaltlichen Ebene, sondern in der Organisationsform als esoterischer Zirkel der einen und als Massenpartei der anderen. Mit wachsendem politischen Erfolg wurden denn auch immer mehr konservative Intellektuelle Mitglieder der Partei.
Im Unterschied zu den Brüdern Jünger blieb Heideggers politische Tätigkeit auf die Universität beschränkt. Doch auch hier zeigt sich sein konservatives Denken deutlich: die Wahrnehmung einer krisenhaften Gegenwart, die er durch ein falsches philosophisches Bewusstsein gekennzeichnet sieht, das durch ein radikales Wiedererlangen eines echten philosophischen Fragens überwunden werden muss. Dies muss durch die tätige Verwandlung des gesamten Daseins durch praktische Anleitung und geistige Führung erfolgen. „Die eigentliche Wiederholung einer gewesenen Existenzmöglichkeit – dass das Dasein sich seinen Helden wählt – gründet existenzial in der vorlaufenden Entschlossenheit; denn in ihr wird allererst die Wahl gewählt, die für die kämpfende Nachfolge und Treue zum Wiederholbaren frei macht“, schrieb Heidegger tiefsinnig. Die verwendeten Begriffe „Wiederholung“, „Wahl des Helden“, und „Widerrufung des Vergangenen im Heutigen“ sind typische Formeln der damaligen konservativen Rechten. Zusammen mit dem Heroismus der Eigentlichkeit weisen entsprechende Abschnitte aus Sein und Zeit voraus auf das NSEngagement Heideggers und belegen die Teilnahme der Existenzialontologie am dezisionistischen Denken der konservativen Revolution. Dazu gehört auch das Sichaufru¬fenlassen aus der Verfallenheit des Man durch den Gewissensruf, der zunächst in Gestalt einer inneren Umkehr erscheint und in einem Aufruf zur Aktion resultiert. Allerdings führt kein direkter Weg von Sein und Zeit zum Nationalsozialismus. Dazu bedarf es nach Morat erst der Weiterentwicklung des heroischen Existentialismus zu einer politischen Konzeption des Handelns und Willens, mithin zu einem „politischen Existenzialismus“ – eine Weiterentwicklung, die in mehreren Schritten in den Vorlesungen der Jahre 1928 bis 1930 erfolgt.
So greift Heidegger in der Vorlesung vom Wintersemester 1929/30 die Motive seines heroischen Existenzialismus auf, um sie aktivistisch zu wenden: Das Konzept des Augenblicks wird zum „Blick der Entschlossenheit zum Handeln“. Das eigentliche Dasein wird an eine übergeordnete Instanz, an ein ihm aufgegebenes Geschick, das es zu erfüllen gilt, gebunden und in den Kontext einer wesentlichen Mitwelt gestellt, denn das Schicksal ist immer „mitbestimmt durch die innere Bereitschaft zur wechselseitigen Gemeinschaft“. Diese Doppelung von Entscheidung und Einordnung erinnert Morat an die Kombination von Freiheit und Notwendigkeit im heroischen Realismus der Gebrüder Jünger. Allerdings führt das bei Heidegger zu einem Leerlauf: Das „wirkliche Wollen und Handeln“ erscheint explizit als „Wollen um das Wollen selbst willen“. Löwith schrieb darüber: „Wer von hier aus vorausblickt auf Heideggers Parteinahme für Hitlers Bewegung, wird schon in dieser frühesten Formulierung der geschichtlichen Existenz die spätere Verbindung mit der politischen Entscheidung angelegt finden.“ Heidegger entwickelte die in Sein und Zeit konzipierten Kategorien der Entschlossenheit, der Selbstwahl, des Schicksals weiter, um seine konservativrevolutionäre Tatbereitschaft zu steigern, die schließlich zu seinem Engagement für den Nationalsozialismus führte.
Diese Weiterentwicklung geschah allerdings nicht linear, sondern ging auf seine durch das Scheitern des Entwurfs von Sein und Zeit (dessen zweiter Teil wurde nie fertig gestellt) entstandene Krise zurück, „aus der heraus der Nationalsozialismus als eine politische Lösung philosophischer Fragen erscheinen konnte“ (Kai Haucke). 1933 schrieb Heidegger an Paul Häberlin, seine „philosophische Arbeit“ müsse sich jetzt „im Praktischen bewähren“. Dabei handelt es sich um das „handelnde Begreifen oder Nichtbegreifen der Weltstunde, in die der Geist dieser Erde eingetreten ist“. Dieses handelnde Begreifen, so Heidegger, „zwingt uns in den Kampf und versetzt uns in Entscheidungen, die in die Zukunft ausgreifen“. Hier spitzt sich Heideggers in den 1920er Jahren entwickeltes philosophisches Programm der Destruktion der Philosophie auf die Entscheidung für oder gegen das Wesen der Wahrheit und damit das eigentliche Dasein zu: „Dieser ungeheure Augenblick, in den der Nationalsozialismus heute gedrängt ist, ist das Werden eines neuen Geistes der Erde überhaupt“, schreibt Heidegger. „Der Nationalsozialismus ist nicht irgendwelche Lehre, sondern der Wandel von Grund auf der deutschen und, wie wir glauben, auch der europäischen Welt“, heißt es an anderer Stelle. Heidegger aber macht umgekehrt auch den Erfolg des Nationalsozialismus davon abhängig, ob dieser sein eigenes philosophisches Anliegen – nämlich die neuerliche Zuwendung zum Sein – zu verwirklichen helfe oder nicht. Denn für ihn ist Philosophie nicht abgehobene Theorie, sondern führt, richtig betrieben, zur „Einsicht in die Notwendigkeit des Handelnmüssens“.
Morat sieht hier Elemente, die Heidegger mit den Brüdern Jünger gemeinsam hat: Verachtung für Stillstand, Mittelmäßigkeit und Harmlosigkeit, dafür Bewunderung für das Unbändige, Zügellose und Wilde und die Aufforderung, sich als „heroischer Mensch ….zu diesem Schicksal zu bekennen und sich ihm gewachsen zeigen“ (Heidegger). Aber auch solche Elemente, die sich bei Carl Schmitt finden: „Feind ist derjenige und jeder, vom dem eine wesentliche Bedrohung des Daseins des Volkes und seiner Einzelnen ausgeht“ (Heidegger). Heidegger hat mit den Brüdern Jünger auch gemeinsam, dass er nach der Machtergreifung zweifache Kritik am Nationalsozialismus übte: Zum einen, dass die nationalsozialistische Revolution für beendet erklärt wurde und zum anderen am Biologismus des nationalsozialistischen Weltbildes. Alle drei propagierten um diese Zeit eine zweite Phase der Revolution. Heidegger seinerseits grenzte sich zwar vom Biologismus ab, vertrat aber selber ein völkisches Blut und BodenDenken. Er unterschied sich von den Brüdern Jünger aber durch sein Insistieren auf der Bedeutung der Philosophie. Daraus resultieren auch seine Versuche, die Universität zu einer Stätte des mittätigen Philosophierens und damit im eigentlichen Sinn zu einer Führungseinrichtung zu machen.
Gegenüber Karl Jaspers behauptete Heidegger, im Frühjahr 1934 „in die Opposition“ gegangen zu sein. In Wirklichkeit ließ er sich aber weiter mit Vertretern des Regimes ein, etwa mit seiner Stellungnahme zur Einrichtung einer Dozentenakademie oder durch seine Unterschrift zur Unterstützung deutscher Wissenschaftler für Hitler im August 1934. Heideggers Distanz zum Regime wuchs aber ab 1935, die allerdings von der Warte eines „wahren“ Nationalsozialismus aus erfolgte. Auch in anderer Hinsicht änderte Heidegger seine Meinung. Während er 1933 noch verlangte, das Volk müsse „seine Metaphysik erst gewinnen“, zielte er ab Ende der 1930er Jahre auf eine „Überwindung der Metaphysik“. Eine Kritik des technischen Nihilismus erlaubte es ihm, sich von seinem Engagement für den Nationalsozialismus zu distanzieren. Die Auseinandersetzung mit Jüngers Arbeiter war ihm dazu eine große Hilfe. Er interpretiert nun Jünger als den wesentlichen, ja einzigen echten Nachfolger Nietzsches, der im Ersten Weltkrieg die Manifestation des von Nietzsche gedachten „Willens zur Macht“ erkannt und Nietzsches Denken von diesem grundlegenden Verständnis aus in das kriegerische Denken des 20. Jahrhunderts übersetzt habe.
Die Denkfigur des Durchstehens der Not, das allein den Umschlag bringen könnte, die bereits für den heroischen Existentialismus der 1920er Jahre charakteristisch war, wurde in dieser Zeit (noch) beibehalten. Aber er distanziert sich vom Begriff des Heroismus, der nun für eine „reine Kapitulation vor der Wirklichkeit“ steht. Eine Überwindung der Not erhofft er sich nun durch den Rückgang „in die Macht des Anfangs unseres geistiggeschichtlichen Daseins“ in der griechischen Philosophie. Durch die „Besinnung“ auf diesen Anfang erhoffte er sich einen anderen Anfang des Denkens. Er entfaltet nun eine Kritik des gegenwärtigen Zeitalters in seinsgeschichtlicher Perspektive, wobei die Begriffe der „Seinsverlassenheit“, der metaphysischen Herrschaft des „Willens zur Macht“ und des „Nihilismus“ maßgebend sind.
Während Heidegger Mitte der 1930er Jahre die „trostlose Raserei der entfesselten Technik“ noch vornehmlich in Amerika und Russland sieht, betont er nun zunehmend die technischmoderne Seite des Nationalsozialismus. Damit kann er sein eigenes Bezugssystem der „Erde“ als wahren Nationalsozialismus vor der NSKontamination retten: „Was heute vollends als Philosophie des Nationalsozialismus herumgeboten wird, aber mit der inneren Wahrheit und Größe dieser Bewegung … nicht das Geringste zu tun hat“ (so Heidegger 1935). Aber auch die Demokratie ist für ihn eine Erscheinungsform des Nihilismus, zusammen mit Liberalismus und Pazifizismus: „Europa will sich immer noch an die ‚Demokratie’ klammern und will nicht sehen lernen, dass diese sein geschichtlicher Tod würde.“
Neben Nietzsche wurde zu dieser Zeit Hölderlin für Heidegger der wichtigste Autor: Hölderlin stifte durch seine Dichtung das Bleibende als das Kommende. Hölderlin ist für ihn der „Dichter, der die Deutschen erst dichtet“ und damit der „Deutscheste der Deutschen“. Das eigentliche Wesen der Deutschen ordnet Heidegger nun in den Kontext Europas und der „Rettung des Abendlandes“ ein. Die Hinwendung zu Hölderlin ist aber zugleich eine Abwendung von der Politik und dem Politiker Hitler. Noch steht das Denken unmittelbar zur Tat, es soll aber nun nicht mehr selbst tätig werden. Auch nach dem Krieg hielt Heidegger an seinem Glauben an das deutsche Wesen fest: „Wir Deutschen können deshalb nicht untergehen, weil wir noch gar nicht angefangen haben und erst durch die Nacht hindurchmüssen“, schreibt er.
Bereits vor 1945 entwickelte Heidegger eine Text und Sprachstrategie, die auf die Schaffung einer esoterischen Gemeinde von Eingeweihten zielte. Deren Gemeinschaft schützte in der unmittelbaren Nachkriegszeit gegen die Anfeindungen an der Universität und in der Öffentlichkeit. Auf der anderen Seite hatte die Rede vom Nihilismus den Charakter eines „in aller Munde“ befindlichen Schlagwortes. Dadurch wurde die „deutsche Katastrophe“ in den Zusammenhang eines länger währenden abendländischen Verfallsgeschehens eingeordnet und damit zugleich relativiert.
Quelle: Diese Rezension erschien unter www.information-philosophie.de (Editiert)
Tübinger Lehrstuhl
Wie Martin Heidegger 1945 fast auf einen Tübinger Lehrstuhl berufen wurde
Alte Heidegger-Knappen hatten gleich nach Kriegsende versucht, ihren Meister aus Freiburg aus der Schußlinie zu bringen, indem sie andernorts seine Berufung betrieben - in Tübingen wie auch in Göttingen. Im Frühsommer 1945, zwei Monate nach dem Ende des Nazi-Reichs, schrieb der kommissarische Dekan der Philosophischen Fakultät Heidelberg, Rudolf Stadelmann, 43, seinem verehrten Martin Heidegger, ob er sich vorstellen könne, an der Eberhard-Karls-Universität zu lehren. In Tübingen waren nämlich zwei philosophische Lehrstühle zu besetzen, darunter auch der Königsthron, der Lehrstuhl für Systematische Philosophie, den der politisch belastete Theodor Haering soeben hatte räumen müssen. Heidegger, 56, Freiburger Ordinarius, hielt sich zu dieser Zeit im oberen Donautal auf, wohin seine Fakultät nach dem verheerenden Luftangriff auf Freiburg Ende November 1944 ausgelagert worden war. Heidegger antwortete sogleich. "Wie die Stimme des Dichters aus seinem Turm am heimatlichen Strom" hätten ihn Stadelmanns Worte erreicht. Tübingen sei für ihn "atmosphärisch sehr lockend", was könne schöner sein als "in der eigenen Heimat im Element Hegels, Schellings und vor allem Hölderlins" das eigene Denken "in seine gemäße Gestalt bringen zu dürfen". Nirgendwo sonst als "in unserem schwäbischen Land" werde dereinst nämlich "der abendländische Geist erwachen". Kein Sterbenswörtchen über die jüngste Vergangenheit und das eigene Mittun im Nazi-Staat. Heidegger richtet den Seherblick unverwandt in die Zukunft: "Alles denkt jetzt den Untergang", philosophiert er privatissime für den einstigen Weggefährten, doch "wir Deutschen können deshalb nicht untergehen, weil wir noch gar nicht aufgegangen sind und erst durch die Nacht hindurch müssen."
Zunächst aber mußte Heidegger sich im peinlich hellen Licht der "épuration" präsentieren, jenem politischen Selbstreinigungsprozeß der Universitäten, für den die französische Militärregierung die Rechtsgrundlage geschaffen hatte. In Freiburg war der ehemalige Rektor Heidegger, der die dortige Universität 1933 zur ersten "Führeruniversität" Deutschlands gepaukt und der "wachsenden Verjudung" der Wissen-schaft getrotzt hatte, der prominenteste Fall. Bereits am 23. Juli 1945, wenige Tage nach dem Brief an Stadelmann, stand der berühmte Philosoph das erste Mal vor einer "Berei- nigungskommission". Die Anfrage aus Tübingen war also vorsorglich gewesen. Stadelmann mußte geahnt haben, in welcher Klemme Heidegger steckte; denn er wußte wie kein zweiter, was sich während Heideggers Rektorat abgespielt hatte.
Rudolf Stadelmann, den Eduard Spranger 1949 bei seinem frühen Tod "einen unserer geistvollsten Historiker" nannte, war 1938 nach Tübingen gekommen. Er lehrte zuvor in Göttingen, wo Heidegger ihn mit einem weltanschaulich lupenreinen Zeugnis auf einen Lehrstuhl befördert hatte. Als junger Privatdozent hatte Stadelmann in Heideggers Freiburger Rektoratsjahr 1933/34 die programmatische Ringvorlesung "Aufgaben des geistigen Lebens im nationalsozialistischen Staat" eröffnen dürfen. Stadelmann war für Heidegger so etwas wie die reinste, hoffnungsvollste Verkörperung des NS-Dozenten-Nachwuchses gewesen, gefolgschaftstreu und zuverlässig. Kein Wunder, daß er ihn 1933 außerdem zum Pressesprecher seines Rektoramtes ernannt hatte.
Mit unbeschädigtem Ruf sprang Stadelmann in Tübingen über das Kriegsende hinweg. Er konnte sich als Mann des Neuanfangs empfehlen und auf dem Sessel eines Dekans die Richtung der Universität mitbestimmen. Würde er Martin Heidegger aus dessen Lage befreien können?
Am 8. November 1945 nahm der Tübinger Ministerialrat Hans Rupp, rechte Hand von Kulturdirektor Carlo Schmid, folgende Notiz zu den Akten: Capitaine René Cheval, französischer Kontrolloffizier in Tübingen, habe ihm mitgeteilt, daß die Militärregierung es begrüße, "wenn Professor Heidegger auf einen philosophischen Lehrstuhl in Tübingen berufen würde". Dies sei kein Befehl, sondern eine Anregung, die Fakultät sei in ihren Berufungswünschen völlig frei. Aber wenn man Heidegger wolle, so hätten die Franzosen nichts dagegen.
Schon in seinem ersten Brief an Stadelmann vom 20.Juli 1945 hatte Heidegger damit geprahlt, wie berühmt er in Frankreich sei. In der Tat hatte eine Pariser Zeitschrift gleich nach dem Krieg Unveröffentlichtes aus seiner Feder begehrt, und mit dem Einverständnis hoher Besatzungsoffiziere war er sogar um Kommentare zur politischen Lage gebeten worden. Heidegger stand also in französischer Gunst. Erst im Herbst 1945 sollte sich das Blatt wenden.
In den ersten Wochen der "épuration" schien es noch so, als komme er glimpflich davon. Im September empfahl die Kommission, Heidegger zu emeritieren und ihm "beschränkte Lehrtätigkeit" zu erlauben. Gleichzeitig bescheinigte ihm die Militärregierung "disponibilité", also eine derart geringe Belastung, daß er volle Rehabilitierung erwarten durfte.
Dagegen wehrten sich im Oktober 1945 einige Freiburger Professoren, die die rücksichtslose Machtentfaltung des Rektors Heidegger 1933 nicht vergessen hatten. Unter anderem beharrten sie darauf, daß Heidegger als intellektueller Verführer junge Gelehrte wie Stadelmann oder Wolfgang Schadewaldt auf die abschüssige Bahn geführt habe und am "politischen Verrat deutscher Universitäten" maßgeblich beteiligt gewesen sei. Dafür müsse er bestraft werden. Nicht lange nach dieser für Heidegger unangenehmen Wende pries Capitaine Cheval den bedrängten Philosophen in Tübingen an.
Cheval kannte den Ehrgeiz von Kulturdirektor Carlo Schmid, in der kleinen Stadt am Neckar die beste Universität Deutschlands zu errichten. Dementsprechend Schmids Berufungspolitik. Nur edle Köpfe durften es sein: Butenandt, Spranger, Guardini, Thielicke, Glasenapp, Otto und Kretschmer. Würde nicht auch Heidegger gut in diese Nomenklatur passen?
Die für Wissenschaft und Kultur, Erziehung und Unterricht zuständige Schmid-Behörde in der Tübinger Nauklerstraße genoß gewisse Entscheidungsfreiheiten. Allerdings mußte sie ihre Wünsche von der französischen Militärregierung absegnen lassen. Im Fall Heidegger war dies das geringste Problem, denn die Franzosen hatten ihr Plazet ja schon vorauseilend erteilt. Es gab aber noch einen dritten Machtfaktor, der bei Neuberufungen zu beachten war: der wiedereingesetzte Universitätssenat.
Die erste Berufungsliste, die am 23. November 1945 in der Philosophischen Fakultät diskutiert wird, sieht ganz so aus, als hätten die Heidegger-Freunde sich leichtes Spiel ausgerechnet: der Meister aus Freiburg an erster Stelle, hinter ihm sein früherer Schüler Gerhard Krüger, und zwar, laut Zusatz, "mit Abstand". Das Protokoll erwähnt aber auch Widerspruch: Der Geschichtsprofessor Heinrich Dannenbauer nennt Heidegger philosophisch "unver-ständlich" und politisch "nicht unbelastet". Dekan Stadelmann erwidert, Heideggers Kompliziertheit dürfe einer Berufung nicht im Weg stehen, "denn zur propädeutischen Einführung seien andere da". Dannenbauers zweiten Einwand schmettert Stadelmann mit dem Hinweis ab, Heidegger sei "politisch geschützt". Dannenbauer bleibt der einzige, der gegen den Vorschlag stimmt.
Anderntags steht die Fakultätsliste auf der Tagesordnung des Senats. Hier wird der Vorschlag Heidegger von vier Professoren "stark angegriffen". Es bildet sich eine Front, die nicht mehr aufzuweichen sein wird. Die beiden Sprecher der Oppositionspartei verdienen es, kurz vorgestellt zu werden:
Da ist zunächst wieder der Historiker Heinrich Dannenbauer, 48. Er trat bereits 1932, also noch ein Jahr früher als Heidegger, der NSDAP bei. Als Parteigünstling wurde er im Juni 1933 der Universität Tübingen von der Stuttgarter Kultusbürokratie als Ordinarius aufgenötigt. Doch ausgerechnet dieser Professor legte sich in Tübingen mit den Nazis an wie kein zweiter: Er verteidigte sein Fach gegen die völkisch-mythisierende Geschichtsbetrachtung und widersetzte sich der Nazifizierung der Universität. Mehrfach stand er vor der Amtsenthebung, die braune Studentenschaft machte nicht nur einmal gegen ihn mobil. Doch mit Courage korrigierte Dannenbauer noch während der Nazi-Herrschaft seinen Fehler von 1932/33. Dennoch mußte er für ihn bezahlen: Von 1946 bis 1949 war er suspendiert.
Heideggers Hauptgegner im Senat ist Erich Kamke, 55, Professor für Mathematik und schon 1933 "Nazi-Hasser und überzeugter Demokrat" (so nannte Theodor Eschenburg ihn). Kamke war in der Zeit der "Führeruniversität" zu keinerlei Konzession bereit, er rief nicht "Heil Hitler!", hob nicht den Arm zum "Deutschen Gruß" und verzichtete überhaupt auf jedes "Zeichen einer auch nur äußerlichen Bejahung", wie seine Fakultät später anerkennend schrieb. Kamke war mit einer Jüdin verheiratet, galt also nach dem Beamtengesetz der Nazis als "jüdisch versippt" und wurde im Jahr 1937 "entpflichtet", das heißt: ohne Bezüge entlassen. Im Juni 1945 wurde er wieder in sein altes Amt eingesetzt.
Kamke und Dannenbauer nun bereiten in der Senatssitzung vom 24. November 1945 dem Philosophen-Dekan Stadelmann eine erste Niederlage. Die Berufungsliste mit Martin Heidegger auf Platz eins wird von der Senatsmehrheit (23:13) an die Fakultät zurückverwiesen.
Stadelmann, derart brüskiert, legt dem Senat eine Woche später eine neue Liste vor. Heidegger steht jetzt nur noch auf dem zweiten Rang, vor ihm der ehrwürdige Nicolai Hartmann, hinter ihm Heinrich Scholz aus Münster, auf Platz vier abgerutscht der junge Gerhard Krüger. Stadelmann geht diesmal diplomatischer vor: Die Fakultät wisse, daß Heidegger, dieser "notwendig einseitige" Denker, in Tübingen Feinde habe. Doch ein Mann wie er, von solch faszinierender Lehrwirkung und Sprache, sei gegen Mißverständnisse weniger gefeit als andere. Zweifellos aber werde Heidegger sich "als eine aufrüttelnde Kraft gerade unter der geistig träge gewordenen Jugend der Nachkriegszeit bewähren".
Und so verläuft die Diskussion in der Senatssitzung vom 1. Dezember 1945: Nachdem Berichterstatter Theodor Steinbüchel beantragt hat, den geänderten Vorschlag anzunehmen, wundert sich Kamke laut Protokoll, "daß Heidegger wieder auf der Liste ist". Dannenbauer bemerkt, die neue Liste sei ungefähr die alte, die nun benannten Philosophen Hartmann und Scholz seien zu bejahrt, daher würden wieder nur Heidegger und Krüger übrigbleiben.
Guardini, Littmann und später auch Kluckhohn sprechen sich für Heidegger aus, der stets "gegen das Negative" eingestellt gewesen sei und sich längst von der Nazi-Partei abgewandt habe. Knoop warnt, den "ungünstigen Eindruck" überzubewerten, den Heidegger bei einem Tübinger Vortrag hinterlassen habe. Kamke aber hält seine Forderung aufrecht, Heidegger von der Liste zu streichen, worüber unkorrekterweise nicht einmal abgestimmt wird. Mit 31:8 votiert der Senat schließlich für den Vorschlag der Fakultät. Kamke kündigt einen Sonderbericht an, der dem Rektor wie auch Kulturdirektor Schmid vorgelegt werden soll.
Von welchem Tübinger Vortrag war da die Rede? Die Legende weiß, daß Heidegger im Herbst 1945 inoffiziell in Tübingen gesprochen und das Bild eines Verwirrten geboten habe: Kunstdünger und Gaskammer, soll er gesagt haben, seien ein und derselbe Ausdruck zeitgenössischer Seinsvergessenheit. Victor Farias nimmt indessen an, daß mit "Tübinger Vortrag" jene Rede gemeint ist, die Heidegger als Freiburger Rektor am 30. November 1933 unter dem Titel "Die Universität im nationalsozialistischen Staat" im Tübinger Vortragssaal "Museum" gehalten hat.
Der Bericht, den Erich Kamke am 1. Dezember 1945 im Senat angekündigt hatte, wurde zwei Tage später fertig. Er begründet detailliert das "Sondervotum" von sieben Professoren, die "mit Nachdruck bitten, von Heideggers Berufung nach Tübingen abzusehen". Kamke charakterisiert Heidegger als dunklen, abstrusen Denker und liefert auch Belegzitate: "Die Nichtung läßt sich nicht in Vernichtung und Verneinung aufrechnen. Das Nichts selbst nichtet." Solche Sprache, solches Denken seien ein Symptom der "Pathologie unserer Zeit". Heidegger, der "Prophet der Zeitkrisis", stelle eine Gefahr für die gegenwärtige Generation dar. Während des Rektorats von 1933/34, so Kamke weiter, habe Heidegger sich als "höchst aktiver Nationalsozialist" ins Zeug gelegt, die Universitätsverfassung zerschlagen und das Führerprinzip durchgesetzt. Heidegger habe einen "nicht unwesentlichen Teil von Schuld für die jetzigen Leiden unseres Volkes zu tragen". Die Berufung eines so belasteten Mannes wäre im übrigen eine "Kränkung" aller kurz zuvor aus politischen Gründen gefeuerten Kollegen (1945/ 46 mußten in Tübingen insgesamt 29 Professoren gehen). Senatsberichterstatter Steinbüchel haut in dieselbe Kerbe, wenn er dem Kulturdirektor eine Berufung Heideggers als Ungerechtigkeit gegen den suspendierten Lehrstuhl-Vorgänger Haering schildert.
Bei allen Mitläufern und kleinen Funktionsträgern des Nazismus wurde zu dieser Zeit ein strenger Maßstab angelegt. Ehemalige Wehrmachts-Offiziere, HJ-Führer oder Angehörige der Waffen-SS blieben vom Studium ausgeschlossen. Konnte man da einen Heidegger auf die Lehrkanzel bitten?
Anfang 1946 verschlechterte sich Heideggers Lage. Die Bereinigungskommission hatte neue Beweise gegen ihn gefunden, und am 19. Januar fällte der Freiburger Senat sein Urteil: Emeritierung unter Entzug der Lehrbefugnis; außerdem wurde Heidegger Zurückhaltung in der Öffentlichkeit auferlegt. Vier Tage danach schrieb er seinen letzten Brief nach Tübingen: Stadelmann möge die Sache nun ruhen lassen. Der Ausweg war verstellt.
Aber noch bevor das Freiburger Urteil erging, war in Tübingen eine eigenständige Entscheidung gefallen. Am 11. Januar 1946 informierten Fakultät und Senat Carlo Schmids Behörde, daß Gerhard Krüger Tübingens vornehmsten Philosophie-Lehrstuhl erhalten solle.
Und so geschah es auch. Ein Kompromiß? Kamkes Sieg?
Für Heidegger kam es in Freiburg indessen noch dicker, auch die Franzosen zogen ihre schützende Hand von ihm, und er mußte fast fünf Jahre warten, bis er offiziell wieder lesen durfte und seine große Zweitkarriere begann. Mythisch umhüllte er, was da 1945/46 abrollte. Zum Abschied von Stadelmann gab er noch einmal Hölderlin das Wort: "Lang ist / die Zeit, es ereignet sich aber / Das Wahre."
Kurt Oesterle (* 1955 ) ist ein deutscher Journalist und Schriftsteller.
Quelle: Diese Rezension erschien unter www.information-philosophie.de (Editiert)