PhilosophiePhilosophie

Das Spektrum an Vorstellungen zur Lebenskunst (lateinisch ars vivendi) reicht von unbeschwertem Lebensgenuss, dem französischen Savoir-vivre, über den gelassenen Umgang mit allen Anforderungen und Verwicklungen, die das Leben mit sich bringt, bis hin zu dem Anspruch, das eigene Leben als Kunstwerk zu gestalten, wie es etwa Goethe, Friedrich Nietzsche und Thomas Mann propagiert und versucht haben.

Immer gehören zur Lebenskunst aber die Bereitschaft, die Fähigkeit und der Wille, die eigenen Lebensumstände wahrzunehmen, zu verarbeiten und die Lebensführung im Rahmen der Möglichkeiten persönlich und gezielt zu gestalten. Der Volksmund spricht davon, dass jeder "seines eigenen Glückes Schmied" ist.


Das Prinzip der Balance als Kern der Lebenskunst

Wenn Wissen frei und Freiheit glücklich macht, müssten wir die glücklichsten Menschen sein, die je auf dieser Erde gelebt haben. Denn keine Menschengeneration hat je so viel gewusst wie wir, und keine Menschengeneration war je so frei wie wir. Allerdings korrespondiert dem unaufhörlichen Zuwachs an Freiheit und Wissen kein Zuwachs an Glück. Freud hat die These vertreten, dieses allgemeine Unwohlbefinden der Menschen in den modernen Gesellschaften, diese Gereiztheit, habe ihren Grund in den vielfältigen Versagungen, die die Gesellschaft uns im Namen ihrer kulturellen Ideale abverlange. Die Diagnose, so Wolfgang Kersting in seinem Essay

Kersting, Wolfgang: Über ein Leben mit Eigenbeteiligung (in Kersting, W.: Gerechtigkeit und Lebenskunst. Philosophische Nebensachen. 220 S., Ln., € 24.80, 2006, Mentis, Paderborn

ist, wenn sie denn überhaupt für Freuds Zeiten Gültigkeit besessen hat, heute bestimmt nicht mehr zutreffend.

Ideale

Kersting sieht den Grund vielmehr darin, dass uns heute die Ideale abhanden gekommen sind: Für große Ideen hat man gegenwärtig keine Verwendung mehr, sie sind allesamt schon in der Wirklichkeit angekommen. Zwar gibt es manche Möglichkeiten der Verbesserung, aber grundsätzliche Alternativen zum Bestehenden können wir uns heute nicht vorstellen. Der erhebende Dienst für Ideale und eine bessere Zukunft weicht dem trainingsintensiven Dienst am Unnützen und Sinnlosen: etwa dem Betreiben von Extremsportarten. Es ist also nicht der entsagungsvolle Dienst am kulturellen Ideal, der für Missvergnügen und Unbehagen verantwortlich ist, sondern das Gegenteil: der Mangel an Idealen, der Mangel an eindeutigen Orientierungen. Denn so repressiv auch das Ideal auftreten mag, als Gegenleistung für den Gehorsam bietet es immerhin Sicherheit: Sicherheit durch Lebensorientierung, Sicherheit durch Wahrheitsgewissheit, Sicherheit durch Sinnstiftung. Da uns diese Art von Sinn nicht mehr im Großformat bereitgestellt wird, müssen wir uns mit dem kleinformatigen Sinn begnügen, den wir selbst unserem Leben zu geben vermögen. Laut Kersting ist das schwer genug und mit beträchtlichem Risiko zu scheitern belastet. Er sieht in der Verwandlung der technischen Verfügungsfreiheit und der ethischen Gestaltungsfreiheit in Selbstmächtigkeit die grundlegende Aufgabe, die moderne Menschen bewältigen müssen. Um sie bewältigen zu können, müssen die Individuen bestimmte Fähigkeiten ausbilden, die es ihnen ermöglichen, die vorfindlichen Optionen zu ordnen, verantwortungsvoll zu gewichten und zu einem Lebensprogramm zu verdichten, in dessen Mittelpunkt die Selbstsorge steht.

Lebensoptimierungsindustrie

Allerdings werden sie dabei nicht allein gelassen. Eine gewaltige Lebensoptimierungsindustrie nimmt sich ihrer an, mit Ratgeber und Orientierungsliteratur, mit Wellnesskliniken, Begegnungsstätten und Beratungszentren. Allerdings macht dies alles nicht glücklicher. Kersting meint, es seien die Lebensverhältnisse, die wir in der Moderne vorfinden, die uns nicht gut tun, die uns gereizt, unausgeglichen und ausgebrannt lassen. Wir haben das Gefühl, dass wir das, was wir vorfinden, nicht alles sein kann, das da noch irgend etwas ist. Auch haben wir das Gefühl, dass das Glück etwas sein muss, das uns widerfährt, das wie das Wetter nicht beeinflussbar ist.

Die antike Philosophie war da anderer Meinung. Sie kannte die Lebenskunst, das Wissen, das nötig ist, um richtig, um gut zu leben und das Leben so zu führen, dass es gelingt, glücklich zu sein. Derjenige, der über diese Kunst verfügt, ist aber kein Lebenskünstler; der Unterschied ist sogar so groß, dass der Lebenskünstler geradezu in einen Gegensatz zur Lebenskunst tritt. Auch darf die Lebenskunst nicht mit Moral verwechselt werden (was häufig der Fall ist). Die Lebenskunst ist eine Kunst der Selbstsorge. Darum ist sie nicht nur von der Moral verschieden, sie kann vielmehr nur die Moral akzeptieren, die sie akzeptiert. Insbesondere die Moral der Selbstlosigkeit muss sie verwerfen. Vor dem christlichen Lied der Demut verschließt sie ihre Ohren genauso wie vor den Zumutungen des selbstvergessenen Altruismus. Es ist deshalb kein Wunder, dass die Tradition der Lebenskunst im vorchristlichen Altertum entwickelt wurde und mit der kulturellen Machtergreifung des Christentums abbrach. Gerne wird auch das Plädoyer für Selbstsorge als neoliberale Rücksichtslosigkeit, als Lobrede auf den Egoismus und als Aufforderung zur Unmoral verstanden. Für Kersting ein verhängnisvoller Trugschluss. Das Selbst, das um sich sorgt, ist durchaus gemeinschafts und kooperationsfähig. Nur sind dies nicht mehr die Gemeinschaften der Tradition, es sind vielmehr moderne individualistische Kooperations und Lebensgemeinschaften, in denen sich selbstsichere Individuen zusammenfinden.

Selbstsorge

Das Wissen der Selbstsorge unterscheidet sich vom Wissen der Wissenschaft. Letzteres schreitet fort und ist in hohem Maße verhaltensanfällig. Ganz anders das Wissen der Selbstsorge: Es ist das, was die Philosophen früher Weisheit nannten, es ist Wissen über das menschliche Leben, und dieses Wissen ist in hohem Masse verhaltensresistent. Es ist Jedermannswissen, unmittelbar einleuchtend und keines besonderen Beweises bedürftig. Und doch muss man immer wieder Anstrengungen unternehmen, um die Menschen an dieses Wissen zu erinnern. Denn die Menschen ziehen es vor, sich leben zu lassen, anstatt ihr eigenes Leben an die Hand zu nehmen. Sie unterwerfen sich dem, was Heidegger das „Man“ genannt hat. Um ein eigentliches Leben zu gewinnen, muss man dagegen Selbstsein entwickeln, zu einem Selbst werden. Damit eine Person ein Leben führen kann und nicht lediglich von den Verhältnissen mitgenommen wird, muss sie sich Priorität gegenüber ihren Zwecken, Wertvorstellungen und Verpflichtungen erarbeiten. Sie muss die kulturell vermittelte und geschichtlich erworbene Fähigkeit, sowohl die kollektiven Überzeugungen des Traditionshintergrundes als auch die eigenen Vorstellungen von einem gelingenden Leben im Lichte neuer Erfahrungen neu bewerten und revidieren. Dabei gelingt es, Vorliegendes sich anzueignen und den eigenen Vorstellungen anzupassen.

Das Gute, Richtige liegt in der Mitte zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig. Wichtiger noch ist aber für die Selbstsorge das Prinzip der Balance. Es handelt sich dabei um ein Organisationsprinzip, das sich auf das Ganze des Lebens erstreckt. Kersting sieht dabei vier Großbereiche der menschlichen Interessen und Bedürfnisse: a) unser Gesundheitsinteresse, b) unsere materiellen Interessen, c) unsere sozialen Interessen und d) das Sinnbedürfnis. Lebenskunst verlangt nun, die Forderungen dieser vier elementaren Interessen an unsere Kraft und unsere Zeit auszubalancieren. Wir müssen unser Leben so organisieren, dass wir uns sowohl mit unserem Körper als auch mit unserer Arbeitswelt, aber auch mit unserem sozialen Umfeld, unserer Familie und unseren Freunden, und schließlich mit unserer sinnsuchenden Seele in Übereinstimmung finden. Das ist schwer; und das Ausmaß dieser Schwierigkeit lässt einen über die vielen Lebensläufe, die misslingen, nicht staunen.

Den Kern des Wissens über die Selbstsorge bilden anthropologische Selbstverständlichkeiten, alltagsethische Binsenwahrheiten und endlichkeitsphilosophische Gemeinplätze. Mit Philosophie hat das für Kersting nichts zu tun. Angesichts des modernen Philosophieverständnisses muss eine lebenskunstdienliche Philosophie geradezu als Widerspruch erscheinen. Die zeitgenössische Philosophie könnte den Zustand der lebensethischen Unmittelbarkeit nur um den Preis der intellektuellen Regression zurückgewinnen. Die Folge wären unerträgliche Aristoteles Nachahmungen und Seneca Imitationen.

Lebenskunst und Moral. Oder macht Tugend glücklich?

Muss, wer glücklich sein will, der Moral zuwiderhandeln? Muss, wer die Moral anerkennt, sein Lebensglück aufs Spiel setzen? Diesen Frage geht Otfried Höffe in seinem Buch

Höffe, Otfried: Lebenskunst und Moral. Oder macht Tugend glücklich? 389 S., Ln., 2007, € 24.90, C.H. Beck, München

nach. Wer aus eigener Kraft und auf Dauer glücklich werden will, der überlegt, wie er sein Leben als Ganzes einrichten will: Welche Lebensform oder welche Lebensstrategie lässt am ehesten eine gelungene Existenz erwarten?

Gemeinsamkeiten in Texten aller Kulturen

In Texten aller Kulturen, die sich mit dem Thema befassen, zeigt sich in dieser Frage in dreierlei Hinsicht eine Gemeinsamkeit. Er¬stens verfolgt man dieselben vier Lebensziele. Diese haben aber für die verschiedenen Menschen derselben Kultur verschiedenes Gewicht. Einige Menschen suchen vornehmlich Lust und führen ein Genussleben. Andere interessieren sich weit mehr für Wohl¬stand, wieder andere für Macht oder aber für Ansehen. Und allen Kulturen ist gemeinsam, dass diese vier Lebensziele in den Texten in der Regel nicht als Gegenstand der Zustimmung, sondern der Kritik auftreten. Insbesondere die Argumente, die Aristoteles gegen diese vier Lebensziele hervorgebracht hat, sind von großer Bedeutung, nicht nur, weil sie prägnant sind, sondern auch, weil sie über Jahrhunderte anerkannt werden.

Höffe geht es aber nicht um eine Textinterpretation, sondern um die Sachfrage: Kann man die vier Lebensziele einer mehr als bloß subjektiv moralisierenden Beurteilung unterziehen; gibt es zu ihren Glücksentwürfen objektive eudaimonistische Aussagen?

Die vier Lebensziele

Was die Lust betrifft, so redet man im philosophischen Gespräch häufig aneinander vorbei. Sie ist selten das Ziel, sie gehört zum Vollzug und hat praktischen Charakter. Die Lust ist im Sinne der erlebten Zustimmung zum eigenen Tun fast immer ein mitlaufendes Ziel oder ein Begleitumstand. Sich in einer Tätigkeit verlieren, die man voll bejaht, heißt, sie lustvoll tun. Die Lust bildet hier nur ein Neben, nicht aber das Hauptziel. Deshalb ist die These, die Lust eigne sich zum Endziel, problematisch. Problematisch ist auch das Bedürfnis nach Verfeinern der Lust. Man wird dann nie glücklich, wenn ein notwendiges Moment des Glücks, die Zufriedenheit, ausbleibt. Eine andere Gefahr liegt in der Tyrannei der Lust, ihrer Grenzenlosigkeit; eine weitere in den Übeln, die man sich mit ihr einhandeln kann, man handelt sich Beschwerden ein, die meist harmlos, oft aber gravierend sind. Die Lebenserfahrung zeigt, dass viele Dinge, die wenig Aufwand kosten, einen geringen Lustwert haben, während die längere und tiefere Zufriedenheit sich oft nur dort einstellt, wo man Mühen auf sich nimmt. Hinzukommen kann eine Befriedigung eigener Art: das Bewusstsein, vor Schwierigkeiten nicht kapituliert, sie vielmehr schließlich bewältigt zu haben. So gesehen schadet eine „SchonPädagogik“ den Heranwachsenden und eine „SpaßGesellschaft“ sich selbst. Wer hohe Ziele verfolgt, erhöht sein Gratifikationspotential, tut sich also selbst Gutes an. Und schließlich hat das Genussleben eine weitere unerwünschte Nebenfolge: Wer nur seine eigenen Bedürfnisse zu befriedigen sucht, nimmt die Beeinträchtigung, ja sogar, im Falle von Sadismus, die Schädigung anderer Menschen in Kauf. Das Lustprinzip scheitert für Höffe deshalb immanent: Es kann die harmonische Realisierung der verschiedenen für das betreffende Individuum wichtigen Lustarten nicht sichern.

Auch das Leben, das nur nach Wohlstand strebt, erliegt einer Perversion: Der Mensch lebt zwar gern „in Wohlstand“, aber nicht um des Wohlstandes willen. Wer nach Wohl¬stand strebt, setzt sich gegen ein Moment des Lustprinzips, die bloße Gegenwart, ab und führt ein zwar schon, aber in engen Grenzen reflektiertes Leben. Denn der Wohlstand dient dem Genuss von morgen und nur indirekt dem heutigen Genuss, nämlich der Überwindung der gegenwärtigen Angst. Auch verhilft das Ziel, Wohlstand zu erwerben, zu Kreativität und Leistung und damit zu einer (freilich oft einseitigen) Entfaltung der Begabung. Wohlstand ist nur ein Zwischen, kein Endziel: Wer seine Existenz auf nichts anderes als auf Geld ausrichtet, verkehrt ein Mittel zweiter Stufe zu einem Endziel, und dies verhindert strukturbedingt ein sinnerfülltes Leben. Wohlstand mag hilfreich sein, doch für das Lebensglück ist er nicht entscheidend. Auf der anderen Seite gibt es fast nichts Entwürdigenderes als die ständige Sorge um das tägliche Brot.

Wie der Wohlstand ist auch Macht eudaimonistisch gesehen ein Mittel zweiter Stufe. Sie dient dreierlei: direkt dem Genuss von morgen, indirekt dem heutigen Genuss, nämlich der Überwindung der gegenwärtigen Angst; und wegen der Schwierigkeit, Macht zu erringen und zu erhalten, wird Kreativität freigesetzt. Allerdings: Bloße Macht ohne einen Gestaltungswillen läuft ins Leere. Höffe empfiehlt deshalb kein unbegrenztes Macht¬streben: Es kommt erneut auf die Optimierung an.

Noch stärker als bei der Macht zeigt sich beim Ansehen die dem Glücksstreben innewohnende soziale Dimension. Denn die Lei¬stungen, die man zustande bringt, müssen von anderen als Leistungen wahrgenommen und geschätzt werden. Somit sind für die Anerkennung die anderen zuständig, womit man sich ungewollt in fremde Abhängigkeit begibt Aber weil Menschen ein grund¬legendes Interesse an einem guten Namen haben, gehört dessen Voraussetzung, die Anerkennung, zu den Grundbedingungen menschlichen Glücks. Während die wechselseitige Anerkennung als Rechtsperson und als Staatsbürger allen Menschen zugute kommen kann, ist die konkrete Anerkennung, das persönliche Ansehen eines Individuums ein knappes Gut, um das teils offen, teils versteckt gekämpft wird.

Die eudaimonistische Vernunft

Höffe nennt das Selbstverhältnis zu diesen Antriebskräften, die dem Prinzip Glück dienen, eudaimonistische Vernunft. Aber um glücklich zu werden, reicht es nicht aus, glückstaugliche Ziele zu verfolgen. Notwendig ist eine eudaimonistische Urteilskraft, eine Klugheit im Sinne von Lebenskunst, die für die Mittel und Wege verantwortlich ist. Ohne die Lebensklugheit fehlen der Charaktertugend die glückstauglichen Mittel, ohne die von der Charaktertugend geleistete Grundausrichtung leistet die Lebensklugheit nicht, was ihr Name sagt: Sie verhilft nicht zu einem insgesamt gelungenen glücklichen Leben. Es braucht Tugend im Sinne von Tauglichkeit, Tüchtigkeit und Kraft. Tugend bedeutet ein auf Dauer gestelltes Verhältnis zu den natürlichen Antrieben, ein Charakter. Eine solche Tugend bringt man nicht von Natur aus mit, die charakterliche und intellektuelle Vernunfthaltung zu den natürlichen Antrieben muss man lernen. Erst wer einen anstrengenden Lernprozess durchlaufen hat, mag am Ende das Richtige spontan, mit Lust und ohne Widerstreben tun. Höffe plädiert für den aus der Aristotelischen Philosophie stammenden Begriff der Mitte. Mitte heißt dabei nicht Kompromiss, sondern Souveränität. Worin diese liegt, lässt sich aber nicht subjektunabhängig sagen.

Die eudaimonistischen Tugenden sind auf der Ebene des Grundsätzlichen universal gültig. Sie sind aber, weil sie sich mit der Ebene des Grundsätzlichen begnügen, für kulturelle und personale Unterschiede offen. Universal gültig ist auch das Leitprinzip: In allen Kulturen und Epochen handeln Menschen zielorientiert und finden ihren Sinn und Zweck erst in Endzielen, die von einem Endziel zweiter Stufe – dem Strebensglück – her als rundum sinnvoll erscheinen.

Welches sind die eudaimonistischen Tugenden? Selbst Vertreter der neueren Tugendethiken üben hier Zurückhaltung. Denn Tugendethik lauft Gefahr, entweder gehaltlos zu sein oder die Form rezeptähnlicher Ausführungen anzunehmen. Höffe nennt drei solche Tugenden: Besonnenheit, Gelassenheit, und Selbstvergessenheit.

Die eudaimonistischen Tugenden

Besonnenheit ist das im praktischen Sinn reflektierte Verhältnis zur Lust. Um angesichts von sinnlicher Lust und Unlust die Glücksfähigkeit zu steigern, entwickelt man eine hedonistische Vernunft und in ihrem Rahmen die Tugend der Besonnenheit. Die Besonnenheit bewahrt die für jede Tugend charakteristische Offenheit. Kein Philosoph maßt sich an zu entscheiden, was für den einzelnen gut oder schlecht ist. Die Besonnenheit gibt keinen bestimmten Lebensstil vor, sondern überlässt ihn den Menschen in ihren unterschiedlichen Temperamenten, Umständen und Interessen. Höffe unterscheidet drei Stufen der Besonnenheit: Die erste, die technische Besonnenheit, befähigt, irgendeine Lust, sofern man sie nur anstrebt, tatsächlich zu erreichen. Die anspruchsvollere, pragmatische Besonnenheit beantwortet die Frage, welche Lust sich in ein insgesamt gelungenes Leben integriert. Und die höchste, die moralische Besonnenheit widersetzt sich einem gegen die anderen rücksichtslosen Luststreben. Sie sucht keine Lust, die die Selbstachtung oder die berechtigten Interessen der Menschen verletzt.

Die Gelassenheit wendet sich gegen eine Ungeduld, die sich auf eine Situation nicht einstellen kann, sondern schon bei deren Wahrnehmung im Sinne eigener Vorstellungen verändern will. Die Gelassenheit besteht in der Bereitschaft, die natürliche Welt, die Mitmenschen, nicht zuletzt die eigene Person mitsamt der dazugehörigen Geschichte anzunehmen und sich trotzdem nicht als freie und schöpferisch handelnde Person aufzugeben. Gelassenheit bedeutet zu akzeptieren, dass das Leben sowohl unangenehme Überraschungen als auch nicht überraschende Unannehmlichkeiten wie das Alter bringt. Gelassen ist auch, wer sich der Diktatur der Hetze entzieht und sich an Zeitverschwendung, an Muße, erfreut. Zu dieser Tugend, einem Ausdruck von Selbstvertrauen, Weltvertrauen und IchStärke, zählt die Bereitschaft, weder unentschlossen zu bleiben noch übereilt zu handeln.

Die Weisheitsliteratur nennt die Selbstvergessenheit „Befreiung aus der Enge des Herzens“. Bindungen bieten Schutzräume, in denen man unbesorgt um Anfeindungen seinen Interessen nachgehen und auch seine Schwächen haben kann. Partnerschaft und Elternschaft sind solche Bindungen, die auf eine lange Zeit hin angelegt sind. Damit solche Bindungen aber gelingen, muss man sich anderen Mitmenschen so zuwenden, wie diese sind, sie also in ihrer Andersheit anerkennen. Was es hier braucht, lässt sich für Höffe am besten als Paradox formulieren: Selbstgewinn durch Selbstverlust.

Macht Moral glücklich?

Aber macht eine solche Tugendethik denn auch glücklich? Höffes Antwort: „Meistens“. Das von der Tugendethik gemeinte Glück entsteht im Vollzug.

Die Tugend allein vermag aber nicht glücklich zu machen. Auch liegt es nicht allein in der Hand des Menschen, glücklich zu werden. Wer unverschuldet eine bleibende Schwerstverletzung erleidet und zum Krüppel wird, kann nicht ernsthaft glücklich genannt werden. Und der Gefahr großen Unglücks ist jeder ausgesetzt: der Rechtschaffene nicht weniger als der Schurke. Tugenden haben keine Macht über die Zumutungen des Lebens. Allerdings hilft die Lebensklugheit, das Leben in Kontexte zu stellen, in denen Widerfahrnisse etwas weniger drohen. Außerdem vermag der Lebenskluge Enttäuschungen und böse Überraschungen ins Positive zu wenden. Die Haltung, die es hier braucht, wird in der antiken Ethik Gleichmut genannt.

Sind „alle Eudaimonisten“, wie Kant meint, „praktische Egoisten“? Nein, antwortet Höffe, denn alle dabei vertretenen Tugenden sind sozialer Natur. So hat beispielsweise im klassischen Eudaimonismus die Freundschaft ein überragendes Gewicht. Und zu einer aufgeklärten Glückssuche gehört ein Wohlwollen, das das Gute für die Mitmenschen ohne weitere Nützlichkeitserwägungen, bloß um des Guten willen, anstrebt. Gespeist aus Mitleid und aus Mitfreude sorgt der im eudaimonistischen Sinn Rechtschaffene auch für das Wohlergehen anderer. Vorrangig ist er für seinen Lebenspartner und für die eigenen Kinder verantwortlich, dann für Eltern und Geschwister, ferner für Freunde und für Menschen, die einem anvertraut sind. Er bezieht aber auch das eigene Gemeinwesen mit ein, und nicht zuletzt berücksichtigt er auch, zumal in einer globalen Welt, die Menschheit und ihre soziale und natürliche Umwelt. Viele Moralphilosophen schließen das Eigeninteresse aus und beschränken die Moral auf die Verantwortung für andere. Für Höffe entspricht dies einem oberflächlichen Moralbegriff, weil ein bedeutender Teil moralischer Verbindlichkeiten einem aufgeklärten Selbstinteresse entspringt.

Die letzte Autorität

Praktische Vernunft bedeutet die Fähigkeit, Gründen zu folgen und aus diesen Gründen an einem vorgestellten Guten, auch gegen sinnliche Anfechtungen und soziale Ablenkungen, festzuhalten. Die praktische Vernunft setzt sich gegen bloße Autorität und schlichte Sinnlichkeit ab. Woher aber nehmen die Gründe ihre Rechtfertigung? Die letzte Autorität liegt für Hoffe beim eigenen Wohl. Aber nicht, wer radikal sein eigenes Wohl sucht, handelt vernünftig, sondern der, welcher sein Leben nach Gesetzen vom Rang der Autonomie führt.

Welches Kriterium entscheidet, ob die eigenen Gründe moralischen Charakter haben? Was ist der zuverlässige Maßstab für Moral? Aus dem komplexen Netz von Faktoren, die im konkreten Handeln zusammenkommen, hebt die Maxime den normativ entscheidenden, letzten Bestimmungsgrund hervor, jene Antriebskraft, aus der heraus allfällige Überlegungen und schließlich die Handlung auf den Weg gebracht werden. Als nicht bloß momentan leitender, sondern zum Charaktermerkmal gewordener Vorsatz beinhaltet sie eine auf Dauer gestellte Willensrichtung. Vom Innern der Person, seinem Willen her, heißt sie Gesinnung, vom beobachtbaren Tun und Lassen her „Einstellung“ oder „Haltung“. Da sich Maximen auf den normativ entscheidenden Punkt, die zugrunde liegende Willensbestimmung, konzentrieren, helfen sie zu verstehen, wieso menschliches Handeln verschieden ausfallen und trotzdem eine gemeinsame, entweder moralische oder auch unmoralische Qualität besitzen kann. Die auf Maximen basierte Ethik tritt zwei Missverständnissen von Moral entgegen: sowohl einem starren Regeldogmatismus als auch einem ethischen Relativismus.

Was ist die Bilanz? Auch wenn die moralische Vernunft ohne Einstimmung des Schicksals kein gelungenerfülltes Leben, kein rundes Glück beschert, setzt sie dieses Glück nicht aufs Spiel. Ohne die moralische Vernunft ist dieses Glück nicht einmal zu erwarten. Unabhängig von dieser Sachlage aber schuldet der Mensch die Aufgabe, wahrhaft moralisch zu sein, nichts und niemandem als sich selbst.

 

Quelle: Diese Rezension erschien unter www.information-philosophie.de (Editiert)