Die Wissenschaftstheorie ist eine Disziplin der Philosophie, die sich mit der kritischen Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen, Methoden und Ergebnissen der Wissenschaften befasst. Dabei zählt sie neben den Naturwissenschaften auch die Sozialwissenschaften, z.B. die Psychologie und die Wirtschaftswissenschaften, zu ihren Untersuchungsfeldern.
Die Wissenschaftstheorie (auch Wissenschaftsphilosophie oder Wissenschaftslogik) hat sowohl eine normative als auch eine deskriptive Aufgabe. Erstere führt zu der Forderung nach philosophischer oder erkenntnistheoretischer Angemessenheit - dass eine Wissenschaftstheorie den philosophischen Ideen entspricht -, letztere zu der Forderung nach historischer Angemessenheit - dass die Beschreibung der Art und Weise entspricht, wie Wissenschaft tatsächlich betrieben wird. In Thomas Kuhns Werk Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen wurde der Schwerpunkt von ersterem auf letzteres verlagert.
Sie interessiert sich für die Ziele, die die Wissenschaften im Allgemeinen oder in spezifischen Bereichen (Mathematik, Physik, Astronomie, usw.) erreichen wollen, sowie für die Methoden, die zur Erreichung dieser Ziele eingesetzt werden.
Grundlage der Überlegungen sind die Philosophie (Metaphysik, Ontologie, Ethik) und die Wissenschaftsgeschichte. Sie ist von der Erkenntnistheorie abzugrenzen, die sich mit dem Wissen im Allgemeinen und nicht speziell mit wissenschaftlichen Erkenntnissen beschäftigt.
Wissenschaftlichen Methode
Fragen der wissenschaftlichen Methode werden seit der Antike diskutiert, kamen aber erst mit der wissenschaftlichen Revolution richtig in Fahrt. Seit Francis Bacon ist eine empirische Herangehensweise populär, bei der Fakten gesammelt und verarbeitet werden, anstatt in einem Sessel zu sitzen und darüber nachzudenken, wie die Welt funktioniert.
In jüngerer Zeit sind Philosophen und Wissenschaftler zunehmend davon überzeugt, dass das bloße Sammeln und Analysieren von Fakten nicht die beste Methode ist; stattdessen heißt es oft, dass man im Arbeitszimmer eine Hypothese entwickelt, die später durch Experimente an der Realität überprüft wird. Eine solche Methode wird oft als hypothetisch-deduktive Methode bezeichnet.
Die Grounded Theory, als eine als eine Methodologie der qualitativen Sozialforschung, und die Hermeneutik haben sich im 20. Jahrhundert zu wichtigen Methoden in den Kulturwissenschaften entwickelt.
Angeblich wissenschaftliche Untersuchungen ohne wissenschaftliche Methode werden als Quasi- oder Pseudowissenschaft bezeichnet.
Geschichte
Die Unterscheidung zwischen Erkenntnistheorie und Wissenschaftstheorie ist neu und auf die Entstehung der modernen Wissenschaft und die Konstituierung der "Wissenschaft" als ein anderes Feld der "Philosophie" zurückzuführen. Diese Unterscheidung hat sich erst im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert entwickelt.
Das Wissen der Antike und des Mittelalters ist geprägt von einer starken Vernetzung der verschiedenen Disziplinen und einer ständigen Suche nach vereinheitlichenden Prinzipien und kausalen Erklärungen durch Beobachtung, Messung und Logik.
Doch im Mittelalter wird die Wissensproduktion bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts von der Kirche kontrolliert. Die Kirche übte die volle Kontrolle über die Gelehrten aus, die größtenteils dem Klerus angehörten, das Wissen wurde in das scholastische Gebäude integriert, das von der Theologie gekrönt wurde. Da die mittelalterlichen Gebildeten mit der Scholastik eine Synthese zwischen der Philosophie des Aristoteles und dem Christentum herstellen wollten.
Der Aufstieg der Wissenschaft als eigenständige Disziplin wird im Allgemeinen mit dem Aufstieg der Astronomie durch die Entdeckungen von Nikolaus Kopernikus oder Galilei im 16. und 17. Jahrhundert verbunden.
Die humanistische Tradition der Renaissance hat den Ursprung der Wissenschaft auf vorsokratische Denker wie Pythagoras oder Thales zurückgeführt. Aristoteles wiederum betonte die Bedeutung der empirischen Beobachtung und der Klassifizierung von Lebewesen in der Biologie.
Vordenker wie David Hume, Immanuel Kant und William Whewell formulierten einflussreiche Überlegungen zu den wissenschaftlichen Erkenntnissen ihrer Zeit. Allerdings wurde die Wissenschaftsphilosophie erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts als eigenständige Disziplin institutionell anerkannt, geprägt durch die Einrichtung der ersten Lehrstühle, die sich auf "induktive Philosophie" oder "induktive Wissenschaftstheorie" spezialisierten.
Die ersten Vorkommen des Begriffs "Wissenschaftsphilosophie" sind mit Versuchen verbunden, die Wissenschaften zu klassifizieren, ihre Vielfalt zu respektieren und gleichzeitig ihre Einheit zu betonen, mit einem betonten pädagogischen Zweck und zur Unterstützung des Fortschrittsdiskurses.
Der Begriff "Wissenschaftler" (Scientist) wurde 1833 geprägt, und der eigentliche Begriff "Wissenschaftsphilosophie" wurde erstmals 1834 von André-Marie Ampère in seinem "Essai sur la philosophie des sciences" verwendet, in dem er die Wissenschaften als eine Reihe von Fakten betrachtete und die Philosophie der Wissenschaften darin bestand, die natürliche Ordnung dieser Gruppen zu entdecken. Zur gleichen Zeit schlug Auguste Comte eine umfassendere Klassifizierung unter der Bezeichnung "Philosophie der Wissenschaften" vor, die von der Mathematik bis zu den biologischen Wissenschaften und der späteren Soziologie reichte.
In England führte William Whewell den Ausdruck "The philosophy of science" 1840 in seinem großen Buch "The philosophy of inductive sciences, founded upon their history" in das englische philosophische Vokabular ein und stellte diese Wissenschaftsphilosophie als "eine vollständige Ansicht des Wesens und der Bedingungen allen wirklichen Wissens" dar.
Heutzutage findet eine wichtige interdisziplinäre Entwicklung statt, die auf der wachsenden Erkenntnis beruht, dass eine Ursache komplexe Wirkungen hervorrufen kann und eine Wirkung komplexe Ursachen haben kann. Bei der Komplexitätsforschung und Chaosforschung (vereinfacht ausgedrückt die Untersuchung dynamischer Systeme, deren Komponenten sich gegenseitig und das System auf nichtlineare Weise beeinflussen) geht es nicht darum, die „richtige“ Theorie auszuwählen (vgl. Ockhams Rasiermesser), sondern vielmehr darum, eine intuitive Auswahl der besten Theorien zu treffen, um „auf die richtige Spur“ zu kommen. Im Laufe der Untersuchung müssen die Strategie möglicherweise geändert werden.
Induktion & Deduktion
Eine der Antworten auf die Problematik der "Rechtfertigung wissenschaftlicher Ergebnisse" beruht auf dem Begriff der Induktion. Eine induktive Argumentation besteht darin, eine Behauptung oder Theorie in bestimmten allgemeinen Fällen für wahr zu halten, unter der Bedingung, dass die Behauptung oder Theorie in allen adäquaten, d. h. der allgemeinen Situation entsprechenden beobachteten Fällen als wahr gezeigt wurde. In der Tat ist es nach der erfolgreichen Durchführung einer Reihe von Experimenten zum dritten Newtonschen Gesetz gerechtfertigt, dieses Gesetz für wahr zu halten.
Zu verstehen, warum die Induktion in den meisten Fällen praktikabel ist, hat lange Zeit zu Fragen geführt. Man kann dort die Deduktion, den logischen Prozess, der von den Prämissen ausgeht und zur Konklusion führt, nicht anwenden, weil es in der Induktion keine Syllogismen gibt, die dies erlauben würden.
Egal, wie oft die Biologen des 17. Jahrhunderts weiße Schwäne beobachtet haben, egal, wie unterschiedlich die Orte dieser Beobachtungen waren, es gibt keinen rein logischen Weg, um zu der Schlussfolgerung zu gelangen, dass alle Schwäne weiß sind. Was grob gesagt darauf hinausläuft, dass diese Schlussfolgerung völlig falsch sein kann (siehe Popper und die Forderung nach der Möglichkeit der Falsifikation).
Eine Antwort auf die Induktion zu geben, erfordert, die relationale Logik zu ändern und andere rationale Argumente anzunehmen. Die Deduktion erlaubt es, eine bestimmte Wahrheit auf der Grundlage einer allgemeinen Wahrheit zu formulieren (z. B. "Alle Raben sind schwarz; dies ist ein Rabe; also ist er schwarz"), während die Induktion es erlaubt, eine allgemeine Wahrheit - oder auch nicht - mit der Unterstützung einer sehr hohen Wahrheitswahrscheinlichkeit zu formulieren, die aus einer ausreichenden Reihe von Beobachtungen abgeleitet wird (z. B. "Dies ist ein Rabe und er ist schwarz; dieser andere Vogel ist ein Rabe und er ist schwarz; ...; alle unsere Beispiele zeigen, dass Raben im Allgemeinen schwarz sind").
Das Rabenparadoxon wurde von dem Logiker Carl Gustav Hempel in den 1940er Jahren vorgeschlagen, um einen Widerspruch zwischen induktiver Logik und Intuition zu veranschaulichen.
Hempel gibt ein Beispiel für das Induktionsprinzip: die Behauptung, dass alle Raben schwarz sind. Man nimmt eine Stichprobe und überprüft eine Million Raben, und alle sind schwarz. Nach jeder Beobachtung wird der Glaube an die Aussage "alle Raben sind schwarz" leicht zunehmen. Das Induktionsprinzip erscheint hier sinnvoll.
Die vorbenannte Hypothese kann unter Erhalt ihres Wahrheitswertes durch Anwendung logischer Transformationsregeln (hier nach klassischer Terminologie eine Kontraposition) umformuliert werden zu „Alle nicht-schwarzen Objekte sind keine Raben“.
Wenn wir einen roten Apfel sehen, ist das mit dieser zweiten Aussage vereinbar. Ein roter Apfel ist ein nicht-schwarzes Ding, und er ist ein Nicht-Rabe. Nach dem Induktionsprinzip kann man also sagen, dass die Beobachtung eines roten Apfels den Glauben an die Aussage verstärkt, dass alle Raben schwarz sind. Dies widerspricht der Intuition.
Falsifikationismus
Der Falsifikationismus ist die ursprünglich von Karl R. Popper (1902–1994) entwickelte Wissenschaftstheorie des Kritischen Rationalismus.
Für Popper ist die Wissenschaft – anders als für den Wiener Kreis – nicht in der Lage, zu überprüfen, ob eine Hypothese wahr ist, sie kann jedoch nachweisen, dass sie falsch ist. Aus diesem Grund ist Induktion nutzlos, denn egal, wie viel Sie experimentieren, Sie werden nie in der Lage sein, alle möglichen Fälle zu untersuchen, und nur ein Gegenbeispiel reicht aus, um eine Theorie zu widerlegen. Im Gegensatz zu der bis dahin in der Wissenschaftsphilosophie vorherrschenden Position des Verifikationismus schlägt Popper daher den Falsifikationismus vor.
Somit bedeutet das "Testen" einer Theorie den Versuch, sie anhand eines Gegenbeispiels zu widerlegen. Wenn eine Widerlegung nicht möglich ist, gilt die Theorie als „bestätigt“ und kann vorläufig akzeptiert, aber nicht verifiziert werden. Das heißt, keine Theorie ist für alle Zeiten absolut wahr, sondern höchstens „unwiderlegt“.
Dieser Grundsatz besagt also, dass eine wissenschaftliche Aussage (Tatsache, Theorie, Gesetz, Prinzip usw.) falsifizierbar sein muss, um nützlich (oder gar wissenschaftlich) zu sein. Falsifizierbar bedeutet, dass die Möglichkeit bestehen muss, die eine Aussage zu widerlegen, z. B. durch ein Experiment. Ohne diese Eigenschaft wäre es schwierig oder sogar unmöglich, eine wissenschaftliche Aussage mit wissenschaftlichen Beweisen zu überprüfen.
Die Falsifikation führt das deduktive Denken wieder in die Debatte ein. Während es nicht möglich ist, eine allgemeine Aussage aus einer Reihe spezifischer Aussagen abzuleiten, ist es möglich, dass eine spezifische Aussage beweist, dass eine allgemeine Aussage falsch ist. Wenn man einen schwarzen Schwan findet, beweist man, dass die allgemeine Aussage "alle Schwäne sind weiß" falsch ist.
Literatur
- Martin Carrier, Holger Lyre, Wolfgang Spohn und Manfred Stöckler: Von der Wissenschaftstheorie zur Wissenschaftsphilosophie (archive.org)
- Alan F. Chalmers: Wege der Wissenschaft: Einführung in die Wissenschaftstheorie. 6. Auflage. Springer, Berlin u. a. 2007, ISBN 978-3-540-49490-4.
- B. Lauth, J. Sareiter: Wissenschaftliche Erkenntnis: Eine ideengeschichtliche Einführung in die Wissenschaftstheorie. 2. Auflage. Mentis 2005, ISBN 3-89785-555-0.
- Hans Poser: Wissenschaftstheorie: Eine philosophische Einführung. Reclam, Stuttgart 2001, ISBN 3-15-018125-9.
- Johann August Schülein, Simon Reitze: Wissenschaftstheorie für Einsteiger. 5. Auflage. UTB, Wien 2021, ISBN 978-3-8252-5675-3.