PhilosophiePhilosophie

Das Gefühl des Staunens zeigt sich, wenn Menschen etwas Seltenes oder Unerwartetes (aber nicht Bedrohliches) wahrnehmen, das mit der Überraschung vergleichbar ist, die sie empfinden. Historisch gesehen gilt es als ein wichtiger Aspekt der menschlichen Natur, der insbesondere mit der Neugier und dem Drang zur intellektuellen Durchdringung zusammenhängt.

Das sogenannte "Wunder" wird oft mit dem Gefühl der Ehrfurcht assoziiert, aber Ehrfurcht wird eher mit Furcht und "Respekt" (im Sinne von Unterwerfung) als mit Freude in Verbindung gebracht.

Erstaunen unterscheidet sich von Überraschung dadurch, dass es menschliche Aufmerksamkeit erfordert. Die Ursache des Erstaunens ist Bewusstsein, während Überraschung das Ergebnis eines Ereignisses außerhalb des Denkens ist.

Philosophie

Das Staunen, das die Wirklichkeit hervorruft, ist das motivierende Gefühl der philosophischen Haltung, insbesondere bei Sokrates (deshalb sprechen wir oft vom sokratischen Staunen: "Weisheit beginnt im Staunen"), der zur Beschreibung dieser Emotion das Wort "thaumazine" verwendete, was auch "blenden" bedeutet.

Laut Platon ist das Staunen eine Voraussetzung der Weisheit und damit der Philosophie:

"Das Staunen ist die Einstellung eines Mannes, der die Weisheit wahrhaft liebt, ja es gibt keinen anderen Anfang der Philosophie als diesen." [Platon: Theaitetos 155 d]

Aristoteles ("Der Anfang aller Weisheit ist die Verwunderung.") sieht im Staunen den Beginn des Philosophierens, das einen starken Akzent auf die Verwunderung legt. Die Philosophie würdigt Dinge kritischer Betrachtung, die zunächst als selbstverständlich erscheinen. Selbstverständlichkeiten werden bezeichnet als „bloße Meinung“ (dóxa). Bei genauem Hinterfragen von Selbstverständlichkeiten zeigen sich erstaunliche, bisher unberücksichtigte und neue Wahrheiten (alétheia).

"Tatsächlich war es das Erstaunen, das die ersten Denker zu philosophischen Spekulationen trieb, so wie es auch heute der Fall ist. Ihr Erstaunen galt zunächst den Schwierigkeiten, die sich ihnen als erstes stellten. Dann machten sie nach und nach Fortschritte und weiteten ihre Forschungen auf wichtigere Probleme aus, wie etwa die Phänomene des Mondes, der Sonne und der Sterne und schließlich die Entstehung des Universums. Eine Schwierigkeit wahrzunehmen und darüber erstaunt zu sein, bedeutet, die eigene Unwissenheit zu erkennen (weshalb sogar die Liebe zu Mythen in gewisser Weise eine Liebe zur Weisheit ist, da der Mythos eine Ansammlung des Wunderbaren ist). Wenn sich die ersten Philosophen also tatsächlich der Philosophie widmeten, um der Unwissenheit zu entgehen, dann deshalb, weil sie offensichtlich allein um des Wissens willen nach Wissen strebten und nicht aus utilitaristischen Gründen." [Aristoteles, Metaphysik , Buch I, 2, 982b]

Die Stoiker hingegen betrachten das Staunen als einen pathologischen Zustand der Seele, der der Unwissenheit entstammt, die es durch Vernunfterkenntnis zu überwinden gilt.

Der französische Philosoph und Mathematiker René Descartes (Cartesianer) beschrieb das Staunen als eine der primären Emotionen und behauptete, dass Emotionen im Allgemeinen Reaktionen auf unerwartete Phänomene sind. Er stellte fest, dass der Mensch, wenn er zum ersten Mal einem überraschenden oder neuen Objekt begegnet, das sich "sehr von dem unterscheidet, was wir vorher wussten, oder von dem, was es sein sollte, sich darüber wundert und überrascht ist."
Aber die Cartesianer hatten, anders als die griechischen Philosophen vor ihm, eine grundsätzlich negative Einstellung zur Bewunderung:
"Wenn es auch gut ist, mit einer gewissen Neigung zu dieser Leidenschaft geboren zu werden, weil sie uns zur Aneignung von Wissen veranlasst, so müssen wir doch danach so gut wie möglich versuchen, sie loszuwerden."

Die spanische (Religions-)Philosophin und Lyrikerin, Maria Zambrano (1904 - 1991), erklärt in „Philosophie und Poesie“, dass Erstaunen zwar der gemeinsame Ausgangspunkt für Philosophen und Dichter sei, sie jedoch beide unterschiedlich darauf reagierten. Der Philosoph tut sich selbst Gewalt an, indem er durch Reflexion und die Schaffung eines Systems zum Verständnis der Welt nach einer Erklärung sucht und so diesem ersten Zustand ein Ende setzt. Der Dichter hingegen nutzt dieses Erstaunen aus und akzeptiert seine Vielfalt. Er verspürt weder das Bedürfnis, die Welt zu interpretieren, noch nach einer Welt der Konsistenz zu suchen.

„Philosophie ist eine Ekstase, die durch einen Herzschmerz ruiniert wird.“ [Maria Zambrano, Philosophie und Poesie, 1940, Kapitel 1: Denken und Poesie]

Maria Zambrano ist stark beeinflusst von ihrem akademischen Lehrer, dem spanischen Philosophen José Ortega y Gasset.

Thaumazein. Über das Staunen als philosophische Haltung

Einige Auszüge aus einem Artikel von Sebastian Knell der sich unter anderem auf ein Kapitel über das Staunen in dem Buch "Egozentrizität und Mystik" von Ernst Tugendhat bezieht.
Der vollständige Artikel: Thaumazein. Über das Staunen als philosophische Haltung (archive.org).

"Zur Essenz des Staunens zählt nach Tugendhat das Nicht-Verstehen. Wer über etwas staunt, der versteht den Grund dessen, was er staunend betrachtet, nicht. Zum Staunen, darüber, dass es überhaupt etwas gibt und nicht nichts, gehört danach z. B. die Erkenntnis der fehlenden Erklärung dieses Sachverhalts. Diesem Punkt ist sicherlich zuzustimmen. Durch das Bewusstsein des Nicht-Verstehens unterscheidet sich das staunende Aufmerken auf etwas von der bloßen ästhetischen Versenkung in einen Gegenstand, wie sie etwa beim andächtigen Betrachten einer Gebirgslandschaft stattfindet. Allerdings gilt es hervorzuheben, dass das Staunen auch nicht einfach als ein Akt der ästhetischen Kontemplation definierbar ist, der zusätzlich vom Bewusstsein des Nicht-Verstehens begleitet wird. Denn zwar lässt sich über einen Gegenstand der ästhetischen Anschauung – wie ein Kunstwerk oder ein ungewöhnliches Naturphänomen – unter Umständen auch staunen. Wenn wir jedoch über die Existenz der Welt im Ganzen staunen, basiert dies nicht auf einer ästhetischen Anschauung der Welt im Ganzen. Denn selbst bei der Betrachtung des Sternenhimmels, die diese Form des Staunens gelegentlich auslösen mag, werden wir stets nur eines begrenzten Ausschnitts dieses Ganzen ansichtig." [Quelle: www.information-philosophie.de]

"Will man das Staunen als ein Proprium der Philosophie auszeichnen, reicht ferner die erwähnte Bestimmung des nicht-verstehenden Aufmerkens auf etwas noch nicht aus. Wir haben weiter oben gesehen, dass es zwei Weisen gibt, das staunende Nicht-Verstehen eines Sachverhalts in den weiteren Horizont der eigenen kognitiven Betätigung einzugliedern: Das Thaumazein lässt sich entweder, in Orientierung an Platon, als ein Endpunkt der kognitiven Bemühung betrachten, als Finalzustand der Theoriebildung, der dann erreicht ist, wenn alle Erklärung an ihr Ende gelangt ist. Oder man kann es mit Aristoteles als den Beginn und Ansporn der Suche nach Erklärungen und nach einem tiefergehenden sachgerechten Verstehen ansehen. Letzteres, das erklärungssuchende Staunen, bildet den motivationalen Treibsatz vieler empirischer Wissenschaften. Daher ist es kein Spezifikum der Philosophie. Dennoch kann es auch innerhalb der Philosophie vorkommen." [Quelle: www.information-philosophie.de]

"Als genuine Besonderheit der Philosophie kommt daher allein jenes finale Staunen in Frage, zu dem das platonische Denken einlädt und das, sofern es sich erst am Ende aller Erklärung einstellt, im Gegensatz zum erklärungssuchenden Staunen als erklärungsgesättigtes Staunen charakterisierbar ist. Hierbei handelt es sich, wie auch Tugendhat hervorhebt, um das Aufmerken auf einen Sachverhalt, welches von dem Bewusstsein begleitet wird, dass dieser Sachverhalt schlechthin jede mögliche Erklärung transzendiert und in diesem Sinne unbegreiflich bleibt.

Ein solcher Sachverhalt scheint nun in der Tat der Umstand zu sein, dass überhaupt etwas existiert und nicht nichts. Sieht man vom logisch problematischen Manöver des ontologischen Gottesbeweises einmal ab, kann es für die Existenz des Seienden als solchem offenbar grundsätzlich keine Erklärung geben. Denn jede Erklärung müsste auf ein Explanans rekurrieren, dessen Existenz seinerseits unerklärt vorauszusetzen wäre. In diesem Sinne verschiebt beispielsweise jede theologische Erklärung der Existenz der physikalisch beschreibbaren Welt das Problem lediglich um einen Schritt nach hinten, indem sie einen Schöpfergott postuliert, dessen Existenz seinerseits als grundloses factum brutum erscheint und mithin explanatorisch unverstanden bleibt. Wer behauptet, dass die Welt existiert, weil Gott sie erschaffen hat, erklärt damit also gerade nicht, warum überhaupt etwas existiert und nicht vielmehr nichts. Jede Erklärung beruht auf einem innerhalb der Erklärung selbst unerklärt bleibenden Erklärer, und dieser Sachverhalt bildet letztlich eine Bedingung der Möglichkeit der Erklärung. Die logische Einsicht in ihn kann uns daher erkennen lassen, dass sich nicht erklären lässt, warum es überhaupt etwas gibt und nicht nichts. Somit steht diese Erkenntnis am Ende eines philosophischen Reflexionsprozesses und nicht an dessen Anfang. Sie kann daher ein finales Staunen, wie es der platonisch-neuplatonischen Vorstellung entspricht, begründen." [Quelle: www.information-philosophie.de]

Sebastian Knell ist Privatdozent für Philosophie an der Universität Bonn. 2015 erschien von ihm „Die Eroberung der Zeit. Grundzüge einer Philosophie verlängerter Lebenspannen“ (Suhrkamp). Im Jahr 2017 erschien der belletristische Roman "Burn-In oder Wie Parzer der Glückseligkeit verfiel".